»Ich ... warte noch immer auf eine Erklärung«, sagte ich schleppend. Der Moment war nicht günstig, das war mir klar. Ich war müde, erschöpft und kaum fähig, einem halbwegs vernünftigen Gespräch zu folgen. Aber ich hatte das Gefühl, verrückt werden zu müssen, wenn ich nicht bald Klarheit bekam.
Howard klappte das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, mit einer umständlichen Bewegung zu, legte beide Hände flach nebeneinander auf den Einband und starrte einen Moment lang auf seine gepflegten Fingernägel herab.
»Das ist nicht so einfach zu erklären, Robert«, sagte er nach einem so langen Zögern, daß ich schon zu bezweifeln begann, ob er überhaupt antworten würde.
»Versuch es doch einfach«, schlug ich vor.
Er lächelte; auf eine sehr seltsame, fast traurige Art. »Du hast mir erzählt, was dir dieser O'Malley in Goldspie gesagt hat, bevor er starb.«
»O'Banyon«, korrigierte ich ihn.
Howard nickte. »O'Banyon«, nickte er. »Gut. Er sagte: daß es einen dritten Magier gibt. Eine Warnung deines Vaters.«
»Wenn es mein Vater war, mit dem er sprach«, wandte ich ein. »Nach dem, was vorhin passiert ist, bin ich mir gar nicht so sicher.« Bei dem Gedanken an den gespenstischen Doppelgänger Roderick Andaras lief mir noch immer ein eisiger Schauer über den Rücken.
»Aber seine Worte würden vieles erklären«, fuhr Howard nach einer Weile fort. »Ich ... kenne mich nicht annähernd so gut in Dingen der Hexerei und Zauberkunst aus wie dein Vater«, sagte er niedergeschlagen. »Siehst du, Robert - dein Vater und ich waren Freunde und Partner, aber ich habe meine Forschungen fast ausschließlich auf die GROSSEN ALTEN konzentriert, während dein Vater sein Leben lang versuchte, tiefer in die Geheimnisse der Macht einzudringen. Er hat mir vieles erzählt, so wie ich ihm, aber wirklich verstanden habe ich nur wenig davon. Ihr habt zwei der Magier von Goldspie getötet - Leyman und Donhill. Aber nach allem, was ich weiß«, - er hob die linke Hand und ließ sie klatschend auf den schweinsledernen Einband des Buches zurückfallen - »und dem wenigen, was in meinen Aufzeichnungen steht, gehören mindestens drei Hexer zu einem wirklichen magischen Zirkel. Und eine Magie, die mächtig genug ist, ein Ungeheuer wie das von Loch Shin zu beherrschen, bedarf der Kraft des Zirkels.«
»Aha«, sagte ich. Howard lächelte.
»Keine Sorge«, sagte er. »Du wirst es verstehen, später. Auch ich habe viele Jahre dazu gebraucht. Du mußt Geduld haben. Aber nach allem, was ich weiß, fürchte ich zumindest, daß es einen dritten Magier in Goldspie gab.«
»Und dieser Magier ...«
»Lebt noch«, führte Howard den Satz zu Ende. »Ja. Er muß deine verborgenen Kräfte erkannt haben, und er war schlauer als die beiden anderen. Er hat den offenen Kampf gescheut, aber das heißt nicht, daß er keine Gefahr mehr wäre.«
»Und du glaubst, er wäre mir gefolgt, hierher, nach London?«
Howard nickte ernst. »Vielleicht nicht dir«, murmelte er. »Aber Priscylla. Sie hat lange genug in Goldspie gelebt. Du kannst das nicht wissen, Robert, aber ein Magier findet einen Menschen, der eine Weile in seiner Nähe war, immer wieder, desto leichter, je länger er mit ihm zusammen war. Für den überlebenden Hexer aus Goldspie muß dieses Mädchen wie ein Leuchtfeuer sein, das er immer und überall wiederfindet.«
Ein Anflug von irrationalem Zorn stieg in mir hoch und wischte den kärglichen Rest vernünftigen Denkens, der mir noch verblieben war, beiseite. »Du magst sie nicht«, behauptete ich.
Howard seufzte. »Darum geht es doch gar nicht«, sagte er, überraschend sanft. »Reicht dir denn das, was vorhin geschehen ist, noch immer nicht? Ich werde nicht immer im richtigen Moment auftauchen können, um dir zu helfen.«
»Wenn du Angst hast«, schnappte ich, »dann mußt du es nur sagen. Priscylla und ich können gehen.«
Howard reagierte eher amüsiert auf meinen Zorn, und im nächsten Moment kam ich mir selbst albern - und auch unfair - vor. Howard hatte wahrlich bewiesen, daß er es gut mit mir meinte.
»Ich habe keine Angst«, sagte er. »Es besteht kein Grund dazu. Nicht hier. Ich lebe nicht umsonst in dieser heruntergekommenen Bude, Robert. Dieses Haus ist eine Festung. Niemand, der mit Schwarzer Magie zu tun hat, kann sich ihm ohne meine Erlaubnis auch nur nähern. Nicht einmal Yog-Sothoth oder Chtulhu selbst könnten uns hier schaden.«
»Entschuldige«, murmelte ich.
»Es gibt nichts zu entschuldigen«, sagte Howard. »Ich verstehe dich, Junge. Und Priscylla ist auch ein nettes Mädchen, das muß ich zugeben. Habt ihr schon Pläne für die Zukunft?«
Ich verneinte. Wir waren seit drei Wochen zusammen, aber irgendwie hatten wir es beide fast krampfhaft vermieden, über das zu reden, was kam, nachdem wir Howard gefunden hatten. Es war für uns beide klar gewesen, daß wir uns trennen mußten. »Bis jetzt - nein«, sagte ich. »Priscylla hatte vor, sich irgendwo in London eine Arbeit zu suchen. Aber jetzt -«
»- ist das nicht mehr nötig«, sagte Howard. »Du bist reich genug, um für euch beide sorgen zu können. Aber das ist nicht das Problem.«
»Der Magier?«
Howard nickte. »Er hat eure Spur. Deine oder Priscyllas, das bleibt sich gleich, wenn ihr wirklich zusammenbleiben wollt.«
Ich beherrschte mich im letzten Moment. »Ich kann mich nicht von ihr trennen«, sagte ich. »Jetzt erst recht nicht. Wenn es diesen Magier wirklich gibt, dann würde er sie umbringen, wenn sie allein wäre. Sie ist vollkommen schutzlos.«
»Ich fürchte, das stimmt«, murmelte Howard. »Und ich fürchte, nach allem, was bisher geschehen ist, bleibt uns keine andere Wahl, als den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Ihr könnt euch nicht ewig hier verstecken, und ihr könnt auch nicht ewig vor ihm davonlaufen.«
»Also müssen wir ihn vernichten.«
»Das müssen wir wohl«, bestätigte Howard. »Aber stell dir das nicht zu leicht vor. Der Shoggote, gegen den du gekämpft hast, war nur eine von zahllosen Waffen, über die er verfügen kann.«
Ich nippte an meinem Tee und starrte einen Moment in die dunkelrote Flüssigkeit. Mein Gesicht spiegelte sich verzerrt auf seiner Oberfläche, und für einen Augenblick kam es mir wie ein grinsender, augenloser Totenschädel vor. Ich schauderte. »Was war er?« fragte ich. »Einer der GROSSEN ALTEN?« Howard lächelte, als hätte ich etwas furchtbar Dummes gefragt. »Nein«, sagte er. »Ganz bestimmt nicht. Wäre es so, dann wären wir jetzt beide tot.« Er griff in seine Westentasche, nahm einen winzigen Gegenstand hervor und warf ihn mir zu. Ich fing ihn auf und ließ dabei um ein Haar meine Teetasse fallen.
»Dieser Stein schützt seinen Besitzer vor Shoggoten und anderen niederen Geistern, die sie heraufbeschwören können, aber gegen einen der GROSSEN ALTEN nutzt er ungefähr so viel wie eine Fliegenklatsche«, sagte Howard.
Verwirrt drehte ich das winzige Ding in den Fingern. Es war ein Stein, etwa so groß wie ein Six-pence-Stück und wie ein fünfzackiger, bauchiger Stern geformt. Seine Oberfläche sah glatt wie Metall aus, fühlte sich aber porös und narbig an. Und er schien auf bizarre Weise zu leben. Zögernd reichte ich ihm den Stein zurück.
»Nach allem, was mir mein Vater erzählte«, sagte ich, »ist Yog-Sothoth frei, nachdem er getan hat, wozu ihn die Hexen von Jerusalems Lot zwangen. Er sollte meinen Vater vernichten, und das hat er getan.«
Howard nickte. »Das stimmt. Aber er ist eine Kraft des Negativen, Robert. Ein böses, abgrundtief böses Ding, das nur existiert, um zu töten und zu vernichten. Er und die anderen.« Es war das zweite Mal, daß er andeutete, daß es außer Yog-Sothoth noch mehr der GROSSEN ALTEN gab, aber ich ging auch diesmal nicht darauf ein. Allein der Gedanke an das schlangenarmige, gewaltige Ding, das ich draußen im Meer gesehen hatte, löste beinahe Übelkeit in mir aus.