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Ein Schatten schien durch das Zimmer zu huschen.

Irgendwo hinter Priscylla bewegte sich etwas, vielleicht ein Vorhang, der im Zug flatterte, vielleicht etwas anderes. Es interessierte mich nicht. Ich wollte es nicht wissen. Alles, was ich wollte, war sie. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich eine derartige, beinahe schon schmerzhafte Erregung verspürt. Ich preßte sie an mich, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küßte sie so fest, daß meine Lippen brannten. Priscyllas Atem beschleunigte sich. Ihre Haut glühte.

»Laß uns gehen, Robert«, flüsterte sie. Ihre Stimme war verlockend, einschmeichelnd, von einer Kraft, die mit Sanftheit erreichte, wozu ein Zwang nicht in der Lage gewesen wäre. »Laß uns von hier fortgehen. Ich kenne ein Haus hier in London, wo wir sicher sind.«

Alles in mir schrie danach, ihr zuzustimmen, ihrem Wunsch nachzugeben. Aber ich konnte nicht. Da war ein Widerstand, eine winzige Insel der Vernunft, die in dem flammenden Orkan, der meine Sinne durcheinanderwirbelte, geblieben war.

»Das ... geht nicht, Liebling«, krächzte ich. Ich wollte sie wieder an mich pressen, aber diesmal drückte sie mich zurück. Etwas in ihrem Bick veränderte sich.

Etwas in ihr veränderte sich. In die tobende Erregung in meinen Gedanken mischte sich Schrecken, ganz leicht nur, aber unleugbar, wie ein gerade spürbarer übler Geruch, der sich nicht ignorieren ließ.

»Bitte«, flüsterte ich. »Sprich nicht mehr. Wir ... wir können nicht fort. Howard ist unser Freund, glaube mir.«

Priscyllas Körper schien in meinen Armen zu Eis zu erstarren. Ihr Gesicht gefror.

Und dann veränderte es sich. Priscyllas noch fast kindliche Züge verschwanden, flossen wie weiches Wachs, das unter der Sonnenglut schmilzt, auseinander, und ordneten sich neu. Plötzlich war es nicht mehr Priscyllas Körper, den ich in den Armen hielt, sondern der einer Fremden. Sie schien Priscylla auf sonderbare, schwer zu beschreibende Weise zu ähneln, war aber gleichzeitig auch vollkommen fremd.

»Dann eben nicht«, sagte sie. Ihre Stimme klang hart und spröde wie Glas. Es war nicht mehr Priscyllas Stimme. »Du entkommst mir trotzdem nicht, Craven.«

»Was -«, keuchte ich, sprach den Satz aber nicht zu Ende.

Das Gesicht über mir verwandelte sich weiter. Die Haut verlor ihren seidigen Glanz, wurde trocken und runzelig wie ein Ballon, aus dem man langsam die Luft herausläßt. Ihr Haar wurde grau, strähnig, dann weiß, und begann in lockeren Büscheln auszufallen und auf meine Brust und mein Gesicht herabzuregnen. Die Lippen zogen sich wie zu einem diabolischen Grinsen zurück, die Zähne dahinter waren gelb, zerfielen vor meinen Augen. Ich spürte, wie sich ihre Hände, die gerade noch sanft und weich gewesen waren, an meinem Körper zu runzeligen alten Krallen verwandelten, wie die Haut trocken wurde und zerbröckelte wie altes Pergament. Ihr Gesicht zerfiel weiter, alterte in Sekunden um Jahrzehnte. Die Augen erloschen, wurden zu milchigen weißen Kugeln und sackten in die Höhlen zurück. Dahinter brodelte etwas Schwarzes, Weiches ... Priscyllas (Priscyllas?) Körper bebte. Die Arme schienen nicht mehr die Kraft zu haben, ihr Gewicht zu tragen. Sie knickte in den Ellbogengelenken ein und fiel langsam nach vorne, direkt auf mich herab.

Die Berührung löste den Bann, der sich um meine Sinne gelegt hatte. Ich schrie panikerfüllt auf, warf mich herum und versuchte, ihren Körper von mir herunterzustoßen.

Es ging nicht. Meine Hände drangen in den zerfallenden Leib ein, als bestünde er nicht mehr aus Haut und Knochen, sondern aus einer weichen, schwammigen Masse. Ihr Leib begann auseinanderzufließen, als sich Knochen und Fleisch in Sekundenschnelle in schwarzen, stinkenden Schlamm verwandelten. Ich schrie, schlug in blinder Panik um mich und bäumte mich auf wie unter Schmerzen. Schwarzer Schlamm besudelte mich, kroch in meine Kleider und klebte an meiner Haut fest.

Ich schrie immer noch, als die Tür aufgestoßen wurde und Howard und Rowlf ins Zimmer gestürmt kamen.

Das Hafenbecken war schon vor langer Zeit aufgegeben worden. Es war eines der ersten gewesen; niemand wußte jetzt mehr genau zu sagen, wer den gewaltigen Graben am Ufer der Themse einst ausgehoben und mit dem Fluß verbunden hatte, aber es war jetzt, nach einem Jahrhundert oder mehr, zu klein für die immer größer und klobiger werdenden Schiffe geworden und schließlich - für den offiziellen Schiffahrtsverkehr - geschlossen worden. Mit den Schiffen war auch das Leben aus seiner Umgebung gewichen. Die Lagerhallen und Schuppen, die seinen Kai säumten, standen leer und verfielen seit einem Menschenalter; von manchen standen nur noch die Grundmauern, andere waren zu Gerippen geworden, die sich im Licht der Mittagssonne wie die schwarzen Skelette bizarrer Urzeitwesen gegen den Himmel abhoben. Ein Stück abseits stand eine Kapelle; fast schon eine kleine Kirche, auch sie verlassen und leer, aber in einem noch nicht ganz so fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls wie die übrigen Gebäude. Trotzdem hatte die Zeit ihre unbarmherzige Hand auch nach dem kleinen Gotteshaus ausgestreckt. Die Fenster waren eingeschlagen und lagen als Teppich winziger glitzernder Glassplitter auf dem gekachelten Boden des Kirchenschiffs, der hölzerne Altar und die Sitzbänke waren vermodert und zum Teil zusammengebrochen.

Manchmal kamen noch Menschen hierher, um still für sich zu beten oder einfach Schutz vor den Unbilden des Wetters oder der Kälte der Nacht unter seinem Dach zu finden, und ab und zu - je nachdem, wie der Wind stand - bewegte sich die schwere Bronzeglocke in seinem Turm und tat einen einzelnen, mühsamen Schlag.

Und trotzdem war das Hafenbecken nicht leer. Nicht heute, nicht an diesem - einem ganz bestimmten - Tag. Etwas Großes bewegte sich träge unter der ölschimmernden Oberfläche seines Wassers, glitt hierhin und dorthin, tauchte manchmal bis dicht unter den Wasserspiegel auf oder sank auf den Grund des Beckens herab, unruhig, unsicher, als suche es etwas.

Es war der Tod, der Schrecken aus einer Zeit, die seit Millionen Jahren vergangen war, lange, bevor sich der erste Halbaffe auf die Hinterläufe erhob, seine Vorderpfoten betrachtete und beschloß, sie fortan Hände und sich selbst Mensch zu nennen. Er war aus seinem Versteck weit im Norden des Landes hervorgebrochen, war die Themse heruntergeschwommen und hatte zweimal getötet, nicht aus Hunger oder Furcht, sondern aus purer Zerstörungswut, und schließlich hatte er London erreicht. Den Ort, zu dem er gerufen worden war. Jetzt wartete er. Sein vernunftloses Hirn registrierte das Verstreichen der Zeit kaum. Sein Opfer würde kommen, ob jetzt, morgen oder in einem Jahr, spielte keine Rolle.

Er hatte fünfhundert Millionen Jahre gewartet - was machten da ein paar Stunden?

»Hier«, sagte Howard. »Trink das, Junge. Es schmeckt scheußlich, aber es wird dir guttun.« Mit einem aufmunternden Lächeln hielt er mir ein Glas mit einer farblosen, dampfenden Flüssigkeit hin.

Ich sah ihn einen Moment zweifelnd an, grub aber dann gehorsam meine Hand unter der Decke aus, die Rowlf mir über die Schulter geworfen hatte, ergriff das Glas und leerte es mit einem einzigen, entschlossenen Zug. Howard hatte recht - in beiden Fällen. Die Flüssigkeit schmeckte ekelhaft, aber die Wärme vertrieb den krampfartigen Schmerz aus meinem Magen, und nach wenigen Sekunden fühlte ich eine wohlige Entspannung, die meine Glieder schwer werden ließ und die Furcht, die mich noch immer gepackt hatte, ein wenig milderte. Dankbar reichte ich ihm das Glas zurück, zog die Decke wieder enger um die Schultern und rutschte auf meinem Stuhl ein Stück näher ans Feuer heran. Wir waren wieder in der Bibliothek: Howard, Rowlf, Priscylla und ich. Ich wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, seit Howard und sein hünenhafter Diener mich gepackt, mir die Kleider vom Leibe gerissen und mich kurzerhand in eine Wanne voll eiskaltem Wasser gesteckt hatten. Ich hatte wie ein Rasender geschrien und um mich geschlagen, so lange, bis Rowlf die Sache zu dumm geworden war und er mich wie ein lästiges Insekt festgehalten hatte, bis das kalte Wasser seine Wirkung tat und ich mich - wenn auch langsam - beruhigte. Wenn ich jemals im Leben dicht davor war, den Verstand zu verlieren, dann in diesen Augenblicken.