Für einen ganz kurzen Moment verspürte ich Zorn, aber mein logisches Denken gewann rasch wieder die Oberhand. Howard hatte wahrscheinlich das Vernünftigste getan. Priscylla litt mehr unter den Ereignissen, als sie mir gegenüber eingestehen wollte. Sie glaubte wirklich, daß alles, was heute geschehen war, allein ihre Schuld sei. Und sie war jung genug, sich zu einer Unbesonnenheit hinreißen zu lassen. Wir gingen zurück in die Bibliothek, wo uns Howard bereits erwartete.
Dr. Gray kam Schlag drei. Das Läuten der Türglocke vermischte sich mit dem trägen Gong der gewaltigen Standuhr, die in einer Ecke der Bibliothek thronte. Howard gab seinem Majordomus einen wortlosen Wink, strich sich noch einmal glättend über Hemd und Hose und trat dann ebenfalls in die Diele hinaus, um Dr. Gray entgegenzugehen. Ich blieb allein zurück.
Ein unangenehmes Gefühl begann sich in meinem Magen breitzumachen. Ich spürte, daß jetzt ein ganz neuer Abschnitt meines Lebens beginnen würde. Ich war arm gewesen, als mich Andara in den Slums von New York aufgelesen hatte, hatte mich jetzt immerhin - wenigstens äußerlich - in einen normalen, gutsituierten Bürger verwandelt und würde in kurzer Zeit sehr reich sein. Ein Millionär.
Aber das war es nicht allein. Mir fiel plötzlich wieder ein, auf welch seltsame Weise Howard seine Worte betont hatte, als er sagte, ich sei der Erbe meines Vaters. Irgendwie war ich plötzlich vollkommen sicher, daß er mehr als Geld und Reichtümer gemeint hatte.
Howards Rückkehr riß mich aus meinen Gedanken. In seiner Begleitung befand sich ein vielleicht sechzigjähriger, grauhaariger Mann, unauffällig, aber elegant gekleidet und mit einem offenen, sympathischen Gesicht. Seine Augen schienen eine Spur zu klein und waren so grau wie sein Haar, und ihr Blick war von der Art, der nicht die geringste Kleinigkeit entging.
Zögernd ging ich Gray entgegen und streckte die Hand aus, aber er ignorierte sie, blieb stehen und maß mich mit einem undefinierbaren Blick von Kopf bis Fuß. »Das ist er also«, sagte er schließlich.
Howard nickte. »Das ist er, Thomas. Ich habe dir nicht zuviel versprochen.«
Ein dünnes, flüchtiges Lächeln huschte über Grays Züge. »Du bist also Robert«, sagte er, diesmal an mich gewandt. »Rodericks Sohn.« Er lächelte noch einmal, und diesmal auf eine sehr herzliche, warme Art, die mich sofort für ihn einnahm. »Ja«, sagte er. »Es ist nicht zu übersehen. Du bist sein Sohn, eindeutig.«
»Sie ... kannten meinen Vater?« fragte ich verwirrt.
Gray nickte. »Und ob. Er war mein Freund, Robert. Er hat mir einmal das Leben gerettet.«
Howard grinste. »Das war so eine Art Hobby von ihm«, sagte er erklärend. Es kam mir irgendwie unpassend vor, in einer Situation wie dieser Scherze zu machen, aber Gray lachte leise.
Überhaupt hatte er sehr wenig von einem Anwalt, fand ich, und erst jetzt fiel mir auf, daß er nichts von den Utensilien, die ich halbwegs erwartet hatte, bei sich trug - weder eine Aktenmappe noch eine Tasche oder sonstwas.
Mein Blick muß wohl Bände gesprochen haben, denn Gray beendete endlich seine Musterung, sah sich suchend um und ließ sich schließlich auf Howards Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder. Howard wies mich mit einer stummen Geste an, auf der anderen Seite des Möbels Platz zu nehmen, zog sich selbst einen Stuhl vom Tisch heran und gesellte sich zu uns.
»Howard«, begann Gray, »hat mir erzählt, was passiert ist. Und nachdem ich dich selbst gesehen habe, glaube ich, mit gutem Gewissen auf alle Formalitäten verzichten zu können. Ich bin hier, um dir das Erbe deines Vaters zu übergeben, Junge.«
Ich schluckte überrascht. »Einfach so?« fragte ich verwirrt. Gray hatte mich nicht einmal nach meinen Papieren gefragt. Und er hätte mich damit auch in arge Verlegenheit gebracht - mein Paß und alle anderen Papiere, die ich bei mir getragen hatte, waren in Goldspie zu Asche verbrannt.
Gray nickte. »Einfach so. Howard vertraut dir, und ich auch.«
»Und Sie -«
Gray brachte mich mit einer raschen Geste zum Schweigen. »Ich weiß, was du sagen willst, Junge. Ich hätte es auch gerne anders getan, aber ich fürchte, die Geschehnisse zwingen uns zu einem etwas überhasteten Handeln. Natürlich müssen wir deine Identität prüfen - für die Behörden - und eine Unzahl von Papieren und Schriftstücken beibringen, ehe du offiziell dein Erbe antreten kannst. Mach dir da keine falschen Hoffnungen; es wird mindestens ein Jahr dauern, bis es soweit ist, wahrscheinlich länger. Obwohl ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um die Sache zu beschleunigen. Aber Howard und ich werden dir solange finanziell unter die Arme greifen.«
»Darum geht es nicht, Mister Gray«, sagte ich.
Gray nickte. »Ich weiß. Trotzdem werden wir es tun. Aber ich bin nicht deswegen hier. Du wirst in den nächsten Tagen in meine Kanzlei kommen und eine Unzahl Papiere unterschreiben, die ich vorbereiten lasse, und alles andere erledige ich für dich. Der Behördenkram ist ganz schön langweilig. Aber für Howard und mich besteht nicht der geringste Zweifel an deiner Identität.« Er tauschte einen raschen Blick mit Howard, der bestätigend nickte und sich schon wieder eine seiner stinkenden schwarzen Zigarillos ansteckte.
»Deshalb«, fuhr Gray nach einer sekundenlangen Pause fort, »bin ich auch hier. Um mich selbst zu überzeugen, daß du Robert Craven, Roderick Andaras Sohn, bist. Und nachdem ich dies getan habe, kann ich dir das hier überreichen.« Er griff in die Brusttasche seines Fracks, zog einen schmalen, mit rotem Siegelwachs verschlossenen Umschlag hervor und reichte ihn mir mit einer fast feierlichen Geste über den Tisch.
Verwirrt blickte ich ihn an, drehte ihn einen Moment hilflos in den Händen und sah wieder auf. »Was ist das?«
»Dein Erbe«, sagte Howard an Grays Stelle. Seine Stimme klang plötzlich sehr ernst. »Dein Vater bat mich und Dr. Gray vor vielen Jahren, dich zu suchen und dir diesen Brief zu übergeben, falls ihm etwas zustoßen sollte.« Er atmete hörbar ein, stand plötzlich auf und tauschte einen zweiten Blick mit Gray. Auch der Anwalt erhob sich.
»Es ist das beste, wenn wir dich allein lassen, damit du ihn in Ruhe lesen kannst«, sagte er. »Wir warten draußen. Ruf uns, wenn du uns brauchst oder eine Frage hast.« Bevor ich Gelegenheit hatte zu widersprechen, wandten sie sich beide um und gingen mit schnellen Schritten aus dem Raum.
Verstört starrte ich die geschlossene Tür hinter ihnen eine endlose Sekunde lang an, ehe ich den Blick wieder auf den schmalen weißen Briefumschlag in meinen Händen senkte. Es war ein ganz normaler, vollkommen unauffälliger Brief, ohne Absender- oder Empfängerangabe, nur mit ein wenig rotem Siegelwachs verschlossen. Meine Finger zitterten, als ich den Umschlag vor mir auf den Schreibtisch legte und das Siegel erbrach.
Der Umschlag enthielt nur ein einziges Blatt, das eng mit Andaras kleiner, verschnörkelter Handschrift beschrieben war. Ich zögerte noch einen winzigen Moment, dann nahm ich das Blatt vollends heraus, trat damit ans Fenster, um die winzige Schrift besser entziffern zu können.
›Robert‹, las ich. ›Wenn du diesen Brief in Händen hältst und liest, dann bin ich, dein Vater, tot. Ich weiß nicht, ob ich jemals vorher Gelegenheit haben werde, dich persönlich kennenzulernen und dir zu erzählen, wie alles gekommen ist, und ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst, was ich dir angetan habe.‹
Meine Verwirrung wuchs. ›Mir angetan?‹
›Ich habe meine beiden engsten Vertrauten gebeten, dir diesen Brief auszuhändigen, falls ganz bestimmte Umstände eintreten sollten‹, las ich weiter. ›Ich bete zu Gott, daß dies niemals der Fall sein wird, aber die Tatsache, daß du meine Worte jetzt lesen kannst, beweist, daß das eingetreten ist, was ich seit deiner Geburt befürchtet habe. Du wirst vieles von dem, was dir Howard oder Dr. Gray erzählen mögen, nicht verstehen und nicht glauben, aber es ist die Wahrheit, und der einzige Grund, aus dem ich dir diese Zeilen schreibe, ist, dich zu warnen. Ich habe dich verleugnet und zu fremden Menschen in Pflege gegeben, um dich zu beschützen, Robert, denn ich habe mächtige Feinde, die sich nicht mit meinem Tod allein zufriedengeben werden, sondern auch dich zu vernichten trachten.