»Aufhören!«
Die Stimme war so scharf, daß wir unwillkürlich mitten im Schritt verharrten. Abrupt hob ich den Kopf und sah nach oben.
Am oberen Ende der Treppe stand eine Frau. Eine sehr schlanke, dunkel- und langhaarige Frau, deren Gestalt fast zur Gänze von einem knöchellangen schwarzen Umhang verborgen wurde. Mein Blick saugte sich an ihrem Gesicht fest.
Ich kannte dieses Gesicht! Es waren die Züge, die ich für den Bruchteil eines Augenblickes gesehen hatte, bevor die vermeintliche Priscylla anfing, sich auf so grausame Weise zu verändern!
»Hört sofort auf«, sagte sie noch einmal. Rowlf fuhr mit einem ärgerlichen Knurren herum und machte Anstalten, die Treppe hinaufzustürmen, prallte aber mitten im Schritt zurück, als ihn der Blick der Fremden traf. Etwas Unheimliches ging von der Frau aus, eine Aura der Macht, wie ich sie nur einmal zuvor in meinem Leben gespürt hatte: in der Gegenwart meines Vaters.
Plötzlich wußte ich, wer sie war.
Ihr Blick richtete sich auf mich, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Und ihre nächsten Worte bewiesen mir, daß es wirklich so war.
»Du vermutest richtig, Robert Craven«, sagte sie. Ihre Stimme klang kalt. »Du hättest auf die Warnung hören sollen. Ich bin der dritte Magier aus Goldspie.« Sie lachte, sehr leise und sehr böse. »Hast du wirklich geglaubt, uns entkommen zu können?«
»Was ... was willst du?« fragte ich. Mein Gaumen fühlte sich plötzlich trocken wie Pergament an.
»Dich«, antwortete sie.
Eine Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, ließ mich herumfahren. Die beiden Messerstecher kämpften sich mühsam und mit schreckensbleichen Gesichtern auf die Füße und begannen, sich links und rechts von uns aufzubauen.
»Laßt sie«, befahl die Hexe scharf. »Eure Aufgabe ist erfüllt. Kommt her.«
Die drei Burschen gehorchten sofort. Als gäbe es uns plötzlich gar nicht mehr, wandten sie sich wie ein Mann um und begannen die Treppe hinaufzueilen. Ihre Bewegungen wirkten ein wenig steif, als gehorchten sie nicht mehr ihrem eigenen Willen.
Die Hexe wartete, bis die drei hinter ihr Aufstellung genommen hatten, und fuhr im gleichen, harten Tonfall fort: »Ich will dich, Robert Craven. Du wirst für den Frevel bezahlen, den du begangen hast. Hast du wirklich geglaubt, du könntest zwei von uns töten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden?«
»Nimm dich in acht, Hexe«, sagte Howard an meiner Seite. »Du bist hier in ...«
»Ich weiß sehr genau, wo ich bin«, unterbrach ihn die Frau. »Und ich bin nicht so dumm, euch hier mit Waffen anzugreifen, die versagen würden.« Sie lachte leise. »Mit dir, Howard, beschäftigen wir uns später. Es gibt andere, die einen Anspruch darauf haben, dich zu vernichten, und ich will mich ihnen nicht in den Weg stellen. Robert wird mich begleiten.«
Howard lachte. »Das wird er nicht.«
»Nein?« Etwas Lauerndes war plötzlich in ihrer Stimme. »Ich bin ziemlich sicher, daß er es tun wird«, fuhr sie in beinahe beiläufigem Ton fort. »Jedenfalls, wenn er Wert darauf legt, sein kleines Flittchen wiederzusehen.«
Ein eisiger Schrecken durchfuhr mich. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Deshalb also dieser scheinbar sinnlose Überfall! Die drei Messerstecher hatten keinen anderen Auftrag gehabt als den, uns lange genug aufzuhalten!
Ich stieß einen krächzenden Schrei aus und stürmte vor, aber Howard riß mich blitzschnell am Arm zurück. »Bist du wahnsinnig?« fragte er. »Sie wird dich umbringen!«
»Selbstverständlich«, sagte die Hexe lächelnd.
Ich riß meinen Arm los und stieß ihn zurück. »Priscylla!« keuchte ich. »Sie haben Priscylla!«
»Denkst du etwa, sie werden sie laufen lassen, wenn du dich ihnen auslieferst?« schnappte Howard. Sein Blick bohrte sich in den der dunkelhaarigen Frau. »Sie werden euch beide töten.«
Die Hexe begann langsam die Treppe herabzugehen. Ihre drei Begleiter folgten ihr in geringem Abstand. Howard, Gray und ich wichen unwillkürlich ein Stück zur Seite, als sie die Treppe herabkamen.
Ihr Blick war eisig, als sie auf der letzten Stufe stehenblieb und mich ansah. »Nun?« fragte sie. »Wie ist deine Entscheidung?«
»Was ... was werdet ihr mit Priscylla tun, wenn ich mitkomme?« fragte ich.
Sie zuckte mit den Achseln. »Nichts. Ich lasse sie laufen. Du bist es, den wir haben wollen, nicht diese kleine Schlampe. Sie ist ohne Wert für uns.«
»Glaube ihr nicht!« keuchte Howard. »Sie lügt.«
»Vielleicht«, antwortete sie. »Aber vielleicht auch nicht. Er wird es nie erfahren, wenn er hierbleibt. Dann wird er nur wissen, daß er Schuld an ihrem Tod hat. Einem sehr unangenehmen Tod«, fügte sie in etwas schärferem Ton hinzu.
Unsicher sah ich Howard an. In meinem Inneren tobte ein Sturm einander widerstrebender Gefühle. Ich wußte ganz genau, daß Howard recht hatte und sie uns vermutlich beide umbringen würden, wenn nicht Schlimmeres. Aber ich konnte an nichts anderes denken als an Priscylla, meine kleine, liebliche Priscylla, die jetzt in der Gewalt dieser Hexe war. »Ich komme mit«, sagte ich leise.
Der Wagen war fast eine Stunde lang in halsbrecherischem Tempo durch die Stadt gejagt. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, und ich hatte es nicht gewagt, mich zu rühren, so daß ich keine Ahnung hatte, wo wir waren. Um ehrlich zu sein, hätte ich auch keine Ahnung gehabt, wenn ich meine Umgebung gesehen hätte - London war eine fremde Stadt für mich, und außer dem Picadilly Circus, dem Hauptbahnhof und dem Hotel WESTMINSTER hatte ich bisher wenig davon zu Gesicht bekommen. Aber das Tempo, mit dem der Kutscher seine Pferde antrieb, und die hallenden, unheimlichen Echos, die der Lärm des dahinjagenden Fahrzeuges in den Straßen hervorrief, verrieten mir zumindest, daß wir uns nicht der Stadtmitte näherten, sondern in einem der weniger dicht bevölkerten Teile der Stadt waren.
Schließlich, nach Ewigkeiten, wie es mir vorkam, verlangsamte sich unsere Fahrt. Die Kutsche hörte auf, wie ein Schiff auf hoher See zu schaukeln, und das rasende Stakkato der Pferdehufe wurde langsamer.
Dafür begann mein Herz schneller zu schlagen. Wir näherten uns unserem Ziel.
Meinem Tod.
Seltsamerweise hatte ich keine Angst; nicht um mich. Alles, woran ich denken konnte, war Priscylla. Ich war allein in der Kutsche. Meine geheimnisvolle Entführerin war nicht mit eingestiegen. Vielleicht gab es sie gar nicht. Vielleicht war die Frau, die ich in Howards Haus gesehen hatte, nichts als eine Illusion gewesen.
Meine Hand glitt unter den Umhang und berührte die Klinge des Stockdegens, den ich eingesteckt hatte. Ich war mir darüber im klaren, daß mir die Waffe herzlich wenig nutzen würde, aber allein das Gefühl, sie dabeizuhaben, beruhigte mich ein wenig.
Der Degen war nicht die einzige Waffe, die ich hatte. In meiner rechten Rocktasche befand sich eine kleine, zweischüssige Damenpistole, die mir Howard zugesteckt hatte, bevor ich das Haus verließ, ohne daß einer der drei Schläger oder die Hexe es bemerkten. Den Degen würden sie mit Sicherheit finden und mir abnehmen, aber bei der winzigen Schußwaffe hatte ich eine Chance.
Der Wagen hielt an. Die Pferde stampften unruhig, dann hörte ich schnelle, trappelnde Schritte, und die Tür wurde von außen aufgerissen. Ein Schwall eisiger Luft wehte ins Wageninnere. Es roch plötzlich nach Nebel und Wasser. Ein breitflächiges, von Narben zerfurchtes Gesicht starrte zu mir herein.
»Rauskommen!« befahl eine harte Stimme.
Gehorsam stand ich auf, trat gebückt durch die Tür und sprang auf die Straße hinab. Mit einer Mischung aus Neugier und allmählich aufkeimender Furcht sah ich mich um. Wir waren am Hafen. Wenige Schritte vor den Pferden hörte die gepflasterte Straße abrupt auf und ging in den zerbröckelten Betonrand eines gewaltigen, mindestens eine halbe Meile durchmessenden Hafenbeckens über. Das Wasser darin roch unangenehm und glänzte wie schwarzer Teer unter dem Licht des Mondes, und die Gebäude, die das Becken an drei Seiten säumten, hockten wie schwarze Schatten in der Nacht da. Nirgendwo war Licht oder irgendein anderes Zeichen menschlichen Lebens zu gewahren. Wir mußten in einem Teil des Hafens sein, der wenigstens jetzt, in der Nacht, vollkommen menschenleer war. Natürlich. Was hatte ich erwartet?