Als die gewaltigen Kiefer zusammenklappten, ließ ich mich zur Seite fallen. Der Laut klang wie der Einschlag einer Kanonenkugel. Ich rollte mich verzweifelt herum, als der Schädel mit einer zornigen Bewegung herabstieß, um mich zu zermalmen, sprang auf die Füße und rannte im Zickzack los.
Ich kam nicht einmal drei Schritte weit. Zwei von Priscyllas Begleitern traten mir in den Weg. Ich wehrte mich wie ein Rasender, aber gegen die überlegenen Kräfte der beiden hatte ich keine Chance. Brutal wurde ich herumgedreht und wieder auf das Ungeheuer zugestoßen.
Die Bestie tobte vor Zorn. Ihr Schädel hatte die Kaimauer getroffen und ein halbes Dutzend Steine zerschmettert, aber von ihrer Schnauze troff Blut; der Schmerz mußte sie rasend machen. Wieder klafften die Kiefer des Alptraumwesens auseinander.
Ein Schuß krachte. Der Mann, der meinen Arm gepackt hatte, ließ mich mit einem Schmerzensschrei los, griff sich an die Schulter und taumelte an mir vorbei.
Ich reagierte instinktiv, versetzte dem zweiten Mann einen derben Tritt vor die Kniescheibe und stieß ihn gegen seinen Kumpan. Er stürzte. Der andere taumelte, durch den Anprall vorwärtsgerissen, vollends an mir vorüber. Und direkt auf die Bestie zu.
Sein Entsetzensschrei ging im Krachen der zuschnappenden Kiefer unter.
»Nein!« schrie Priscylla. In ihrer Stimme vibrierte mühsam zurückgehaltene Panik. »Nicht! Laßt ihn nicht entkommen!«
Die vier übriggebliebenen Messerstecher drangen gleichzeitig auf mich ein, aber noch bevor mich der erste erreichen konnte, peitschte ein weiterer Schuß, und der dunkelhaarige Riese, der die Kutsche gelenkt hatte, fiel nach vorne und umklammerte sein Bein. Die anderen erstarrten mitten in der Bewegung.
Hinter mir stieß die Bestie ein ungeheuerliches Brüllen aus, warf den Kopf in den Nacken und schleuderte den Mann, den sie gepackt hatte, mit einer zornigen Bewegung von sich. Die Kaimauer erbebte unter dem Anprall ihres Titanenleibes, als sie sich nach vorne warf.
In der Dunkelheit hinter Priscylla zuckte ein grellorangener Blitz auf. Der Knall des Gewehrschusses vermischte sich mit dem Schmerzensschrei des Sauriers, als die Kugel sein linkes Auge traf und blendete.
Die Bestie schrie: ein röhrendes, unglaublich lautes Geräusch, das mich instinktiv die Hände vor die Ohren schlagen ließ und meilenweit im Umkreis zu hören sein mußte. Mit einer schmerzerfüllten Bewegung warf sie sich zurück, bäumte sich noch einmal auf - und versank in den kochenden Fluten.
»Packt ihn!« befahl Priscylla. Sie schrie jetzt. Ihre Stimme war wenig mehr als ein hysterisches Kreischen. »Packt ihn! Er muß sterben!«
»Das würde ich nicht tun«, sagte eine Stimme hinter ihr. Die drei Burschen, die - hin und her gerissen zwischen purer Angst und dem überlegenen Einfluß von Priscyllas Willen - unentschlossen vor mir standen, ließen erschrocken die Hände sinken und drehten sich um.
Wenige Schritte hinter Priscylla waren die Gestalten dreier Männer erschienen. Jeder von ihnen hielt eine langläufige Repetierflinte in den Händen - und die Läufe deuteten drohend auf Priscylla und die drei Halsabschneider.
»Komm hierher, Robert«, sagte Howard. Ich erwachte endlich aus meiner Erstarrung, ging in weitem Bogen um die drei Männer herum und trat zwischen ihn und Gray. Der grauhaarige Anwalt wirkte plötzlich gar nicht mehr wie ein gütiger alter Mann. Das Gewehr wirkte zu groß für seine schmalen Hände, aber der Ausdruck auf seinen Zügen sagte mir, daß er entschlossen war, von der Waffe Gebrauch zu machen, sollte es notwendig sein. Ich tauschte einen raschen Blick mit ihm, nickte Rowlf - dem dritten im Bunde - flüchtig zu und nahm das Gewehr entgegen, das er mir hinhielt.
»Wo ... wo kommt ihr her?« fragte ich verstört.
Howard lächelte flüchtig »Ich habe auch meine kleinen Tricks und Mittel auf Lager«, sagte er.
»Das nutzt euch gar nichts«, zischte Priscylla. Ihre Stimme bebte vor Haß. »Ihr Narren wißt ja nicht, was ihr tut.«
Howard antwortete nicht auf ihre Worte. Schweigend musterte er sie, senkte seine Waffe um eine Winzigkeit und schüttelte den Kopf. »Du hast dich verändert, Lyssa«, sagte er. »Aber leider nur äußerlich.«
»Es ist viel Zeit vergangen«, entgegnete Priscylla gepreßt.
Verwirrt sah ich von ihr zu Howard und zurück. »Ihr kennt euch?«
Howard nickte. »Ja. Wenn ich sie auch in ... anderer Gestalt in Erinnerung gehabt habe. Ich muß gestehen, daß sie selbst mich getäuscht hat, wenigstens am Anfang. Vermutet«, fügte er nach einer sekundenlangen Pause hinzu, »habe ich es die ganze Zeit, aber ich wollte es nicht wahrhaben.«
»Du hättest auf deine innere Stimme hören sollen, du Narr«, sagte Priscylla haßerfüllt.
»Priscylla«, murmelte ich. »Warum ...?«
Howard unterbrach mich mit einem ernsten Blick. »Es tut mir leid, Junge«, sagte er. »Aber du mußt dich damit abfinden. Diese Frau ist nicht Priscylla. Das Mädchen, das du kennengelernt hast, hat niemals existiert.«
Priscylla starrte ihn an, aber Howard hielt ihrem Blick ruhig stand. Zehn, fünfzehn Sekunden lang taten sie nichts, als sich gegenseitig anzustarren, aber ich spürte, daß hinter der Oberfläche des Sichtbaren ein unglaublicher Kampf tobte, ein Kampf zweier Geister, eine Auseinandersetzung der Willenskräfte, die sich auf einer Ebene abspielte, die ich nicht einmal zu erahnen imstande war.
Dann, plötzlich und ohne sichtbaren äußerlichen Anlaß, senkte Priscylla den Blick und taumelte mit einem erschöpften Seufzer zurück.
»Du verschwendest deine Kräfte«, sagte Howard kalt. »Auch ich habe dazugelernt, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
Priscylla stöhnte. Für einen endlosen Moment richtete sich der Blick ihrer dunklen, weichen Augen direkt in den meinen. »Robert«, flüsterte sie. »Laß nicht zu, daß er mir etwas antut.«
Howard knurrte ärgerlich und hob sein Gewehr. Priscylla fuhr zusammen, und ich spannte mich. Ich würde nicht zulassen, daß er sie umbrachte, ganz gleich, wer sie wirklich war.
»Noch einen Laut, Lyssa, und ich erschieße dich«, sagte er ernst. »Wenn du auch nur versuchst, den Jungen zu beeinflussen, bist du tot.«
»Nein, Howard«, sagte ich ruhig. »Das ist sie nicht.«
Howard erstarrte. Ich war zwei Schritte zurückgewichen, ohne daß er es gemerkt hatte, und hatte die Waffe erhoben. Der Lauf des Repetiergewehres deutete genau auf Howards Stirn. Seine Augen weiteten sich ungläubig.
»Robert!« keuchte er. »Du ... du weißt nicht, was du tust! Sie beherrscht deinen Willen, und -«
»Das tut sie nicht«, erwiderte ich ruhig. »Aber ich lasse nicht zu, daß du ihr irgend etwas antust. Ich lasse nicht zu, daß ihr irgend jemand etwas antut.« Der Lauf meiner Büchse beschrieb einen Halbkreis und deutete nacheinander auf Rowlf und Dr. Gray, ehe er wieder in Howards Richtung zurückschwenkte. »Das gilt für alle.«
Mein Blick suchte den Priscyllas. Sie wirkte verwirrt, aber ich glaubte, einen schwachen Schimmer von Triumph in ihren Augen zu erkennen. Sie machte einen Schritt in meine Richtung, und ich schwenkte das Gewehr. Priscylla erstarrte.
»Bleib stehen«, sagte ich ernst.
Auf ihren Zügen erschien ein Ausdruck grenzenlosen Unglaubens. »Aber Robert«, sagte sie. »Ich dachte, du -«
»Ich sagte, ich lasse nicht zu, daß dir ein Leid zugefügt wird«, unterbrach ich sie. »Das heißt nicht, daß ich mich umbringen lassen werde.«
Sie starrte mich an. Ich spürte, wie etwas Unsichtbares, Körperloses nach meinem Geist griff und ihn einzulullen begann. Mühsam schüttelte ich den fremden Einfluß ab.
»Howard hat unrecht«, fuhr ich fort. »Ich liebe dich immer noch, und ich weiß, daß es die Priscylla, die ich kennengelernt habe, noch in dir gibt. Sie existiert, irgendwo in dir.«
Priscylla schluckte. »Was ... was meinst du?« fragte sie unsicher.