Sie traf den Schädel der Bestie wie ein gigantischer Hammer und zerschmetterte ihn.
Mitternacht war vorüber, als wir Howards Haus wieder erreichten. Ich war müde, so müde, wie niemals zuvor in meinem Leben, und meine Beine schienen kaum noch in der Lage, das Gewicht meines Körpers zu tragen.
Trotzdem ging ich noch nicht ins Haus, sondern blieb auf der dunklen, von Kälte und Nebel erfüllten Straße stehen, bis der Wagen in der Nacht verschwunden war.
Ich weiß nicht mehr, was ich in diesem Augenblick fühlte; ich glaube, es war nichts als eine große, schmerzhafte Leere. Das Gefühl, etwas verloren zu haben, das ich nicht einmal richtig besessen hatte. Als Howard und Rowlf Priscylla - die noch immer bewußtlos war - in Grays Wagen gelegt hatten, war etwas in mir zerbrochen.
Ich sah auf, als ich Howards Schritte hinter mir hörte. Sein Blick war ernst.
»Keine Sorge, mein Junge«, sagte er. »Dr. Gray wird sich um sie kümmern.«
Ich antwortete nicht, und der besorgte Ausdruck in Howards Blick wurde stärker. »Ich kann es dir nicht versprechen«, sagte er, »aber vielleicht - nur vielleicht - wirst du Priscylla eines Tages wiedersehen.«
»Wo bringt er sie hin?« fragte ich.
»Zu einem Ort, an dem sie sicher ist«, antwortete Howard nach kurzem Zögern. »In eine Klinik. Man wird sich dort gut um sie kümmern. Priscylla ist krank, Robert. Sehr krank.«
»Eine Klinik.« Ich lachte bitter. Etwas schien sich in mir zusammenzuziehen, schnell, ruckartig und sehr schmerzhaft. Seine Worte klangen wie böser Hohn in meinen Ohren. »Ein Irrenhaus, meinst du.«
Diesmal antwortete Howard nicht mehr. Nach einer Weile wandte er sich um und deutete auf die offenstehende Tür. Gelblicher Lichtschein fiel aus dem Haus und zeichnete ein verschwommenes Dreieck aus Helligkeit auf das Pflaster. »Komm«, sagte er. »Laß uns gehen. Wir müssen unser weiteres Vorgehen besprechen. Diesmal haben wir noch Glück gehabt, aber das muß nicht immer so sein.«
Glück? dachte ich. Für einen Moment sah ich die Kirche noch einmal vor mir. Es war keine sehr große Kirche gewesen, aber der Turm war ihr stabilster Teil. Es wollte mir nicht in den Kopf, daß von allen Teilen des Gebäudes ausgerechnet die Glockenhalterung, der sicher am besten und stabilsten gemauerte Bestandteil der ganzen Kirche, als erster unter dem Ansturm des Ungeheuers nachgegeben haben sollte.
Nein, dachte ich. Das hatte nichts mit Glück zu tun gehabt.
Ich wandte mich um, und für einen Moment glaubte ich, auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine schwarze, hochgewachsene Gestalt zu sehen, eigentlich nur den Schatten einer Gestalt. Ein Schatten mit dunklen Augen, einem messerscharf ausrasierten Bart und einer wie ein Blitz gezackten Strähne schlohweißen Haares über der rechten Braue. Dann verschwand die Vision, so schnell, wie sie gekommen war.
Aber als ich Howard ins Haus folgte, war ich plötzlich absolut sicher, daß es kein Zufall gewesen war.
Viertes Buch - Das Haus am Ende der Zeit
Von außen hatte das Haus nur groß und finster ausgesehen; vielleicht ein ganz kleines bißchen düster, wie es die Art alter, einsam stehender Herrenhäuser nun einmal ist; mit einer Spur von Bedrohung und dem leichten Hauch des Unheimlichen, der von seinen von den Jahrzehnten geschwärzten Mauern ausging. Aber trotz allem nicht mehr, als eben ein Haus, das seit einem Menschenalter vergessen und seit zweien verlassen hier mitten im Wald stand.
Das war das Äußere gewesen.
Innen war es unheimlich. Unheimlich und - gefährlich ...
Jenny vermochte das Gefühl nicht in Worte zu kleiden. Sie waren stehengeblieben, nachdem Charles das morsche Türschloß aufgebrochen und einen Flügel des gewaltigen Portals mit der Schulter aufgedrückt hatte. Ein schmaler Streifen grauer, flackernder Helligkeit sickerte hinter ihnen in die Halle, vielleicht das erste Mal seit Jahren, daß Licht die ewige Nacht hier drinnen erhellte, und durch das dumpfe, rasche Hämmern ihres eigenen Herzens glaubte Jenny das Huschen kleiner, krallenbewehrter Pfoten zu hören. Ratten, dachte sie entsetzt. Natürlich. Das Haus mochte von Menschen verlassen sein, aber die Ratten und Spinnen hatten es erobert und zu ihrem Domizil gemacht. Sie haßte Ratten.
Aber das war nicht alles. Irgend etwas Seltsames, körperlos Drohendes nistete in dem alten Gemäuer, etwas, das sie weder hören noch sehen oder riechen, dafür aber um so deutlicher spüren konnte.
»Laß ... laß uns wieder gehen, Charles«, sagte sie stockend. »Ich ... ich fürchte mich.« Sie flüsterte, als hätte sie Angst, mit dem Klang ihrer Stimme die Geister dieses Hauses aufzuwecken, aber ihre Worte füllten die hohe, in undurchdringliche Schwärze getauchte Halle trotzdem mit kichernden Echos aus. Ein rascher, unangenehmer Schauer huschte auf eisigen Spinnenfüßen über ihren Rücken.
Charles schüttelte stumm den Kopf, berührte sie flüchtig am Arm und versuchte zu lächeln. »Unsinn«, sagte er. »Es gibt hier nichts, wovor du Angst zu haben bräuchtes. Das Haus steht seit fast fünfzig Jahren leer. Als Kind habe ich oft hier gespielt. Wir haben es als Versteck benutzt, aber das ist lange her.«
Jenny schauderte. Ohne daß sie sagen konnte, warum, verstärkten Charles' Worte ihre Furcht noch. Ihr Herz schlug schneller. Speichel sammelte sich hinter ihrer Zunge. Sie hatte das Gefühl, daß ihr gleich übel werden würde. Ihre Handflächen wurden feucht.
»Ich will nicht hierbleiben«, sagte sie noch einmal. »Bitte, Charles!«
Charles seufzte. Sein Blick glitt zurück durch die Tür und heftete sich für einen Augenblick auf den nahen Waldrand, der rasch im dunkler werdenden Grau der Dämmerung versank. »Wir können nicht weiter«, sagte er nach einer Weile. Seine Stimme hörte sich gleichzeitig entschlossen wie bedauernd an. »Sie suchen garantiert die Hauptstraße ab, und ich gebe dir Brief und Siegel, daß sie jedes Gasthaus im Umkreis von fünfzig Meilen kontrollieren werden.« Er lächelte. »Wir können nicht draußen im Wald übernachten, das weißt du genau. Und es ist nur für eine Nacht.« Er schüttelte den Kopf, atmete hörbar ein und sah sich suchend um. »Irgendwo hier muß es eine Kerze geben«, murmelte er. »Früher lagen Dutzende davon hier herum.«
»Charles, ich ...«
»Bitte, Jenny«, unterbrach sie Charles. »Morgen abend um diese Zeit sind wir Mann und Frau, und keine Macht der Welt kann uns noch trennen. Aber solange wir noch nicht offiziell verheiratet sind, müssen wir vorsichtig sein.« Er trat auf sie zu, legte die Hände auf ihre Schultern und küßte sie flüchtig auf die Stirn. »Du weißt doch genau, was geschieht, wenn deine Eltern uns erwischen, Schatz«, flüsterte er.
Jenny nickte zögernd. Natürlich wußte sie es. Daß sie es wußte, war ja gerade der Grund, aus dem sie sich entschlossen hatten, wie eine moderne Ausgabe von Romeo und Julia miteinander durchzubrennen und in Gretna Green zu heiraten. Sie war erst achtzehn, und sie wußte, daß ihre Eltern alles in ihrer Macht Stehende tun würden, sie von Charles fernzuhalten. Sie hatten mehr als einmal damit gedroht, sie in ein Internat auf dem Kontinent zu schicken, wenn sie sich weiter mit Charles traf. Und ihr Vater war kein Mensch, der leere Drohungen ausstieß.
Sicher, Charles hatte recht, mit jedem Wort. Und trotzdem bedauerte sie ihren Entschluß fast, seit sie dieses unheimliche Haus betreten hatten.
Charles löste sich behutsam von ihr, drehte sich herum und ging mit vorsichtigen Schritten tiefer in das Haus hinein. Jenny blieb neben der Tür stehen, achtsam darauf bedacht, den winzigen Bereich von Helligkeit hinter dem Eingang nicht zu verlassen. Charles hantierte eine Weile im Dunkeln herum, fluchte gedämpft und kam - nach Sekunden, die ihr wie Ewigkeiten erschienen - zurück. Seine Kleider waren verdreckt und staubig, und auf seiner linken Wange glänzte ein dünner, blutiger Kratzer. Aber er trug eine Kerze in der Hand. Mit einem triumphierenden Grinsen ließ er sich neben Jenny in die Hocke sinken, stellte die Kerze zu Boden und kramte eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Nach wenigen Augenblicken schlug ein gelbes, flackerndes Flämmchen aus dem Docht und trieb die Dunkelheit um ein paar Schritte zurück.