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Charles richtete sich auf, gab Jenny die Kerze und schob die Tür wieder zu. Das schwere, annähernd drei Meter hohe Türblatt bewegte sich nur widerwillig. Es war verzogen und verquollen, und Charles keuchte vor Anstrengung, als es ihm endlich gelungen war, die Tür wieder zu schließen. Mit einem dumpfen, unheimlich widerhallenden Laut rastete das Schloß ein.

»Gehen wir nach oben«, schlug Charles vor. »Es gibt ein paar Zimmer, die noch ganz in Ordnung sind. Komm.« Er nahm Jenny die Kerze wieder ab, machte eine aufmunternde Kopfbewegung und ging auf die breite Freitreppe zu, die sich im hinteren Teil der Halle erhob.

Jenny folgte ihm mit klopfendem Herzen. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie im schwachen Schein der Kerze erstaunlich weit sehen. Die Halle war gefüllt von zerbrochenen Möbelstücken, Staub und Unrat, der sich im Laufe der Jahrzehnte hier gesammelt hatte. Überall hingen Spinnweben wie graue Vorhänge, und von der Decke fielen graue Staubfäden bis fast zum Boden herab. Auf den Treppenstufen lag Rattenkot, und aus einem finsteren Winkel schlug ihnen leichter Verwesungsgeruch entgegen. Dieses Haus ist kein Haus, dachte Jenny schaudernd, sondern ein Grab.

Hintereinander gingen sie die Treppe hinauf. Charles schritt schnell aus, und Jenny mußte sich sputen, um mit ihm Schritt zu halten und nicht zurückzufallen. Sie erreichten das obere Ende der Treppe und traten auf eine breite, auf einer Seite offene Galerie hinaus, von der zahllose Türen abzweigten. Jenny glaubte Geräusche zu hören, das Wispern und Flüstern von Stimmen, das Schlurfen schwerer Schritte, Atmen, ein leises, unglaublich böses Lachen ...

Für einen Moment stieg Panik in ihr hoch, aber sie drängte sie zurück und ballte die Fäuste, so fest, daß sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Handflächen gruben.

»Charles«, flüsterte sie. »Ich will hier raus.«

Charles blieb stehen, drehte sich langsam zu ihr herum und sah sie an. Sein Gesicht war ernst, und Jenny glaubte das leise Flackern von Angst in seinen Augen zu erkennen.

»Ich will weg«, sagte sie noch einmal und etwas lauter als zuvor. »Bitte, Charles. Lieber übernachte ich im Wald, als in diesem Haus.«

Das Wispern und Flüstern wurde lauter. Jemand lachte, ganz leise und voller boshafter Vorfreude. Charles' Mundwinkel zuckten. Die Kerze in seiner Hand begann zu zittern, und die Flamme warf zuckende Lichtreflexe und huschende Schatten auf die Wände. Schatten, die sich auf sie zubewegten, sie einzukreisen begannen ...

»Bitte«, sagte sie noch einmal. »Ich ... ich bleibe nicht hier.«

Charles nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt, und auf seiner Stirn glänzte plötzlich Schweiß, obwohl es hier drinnen eher zu kalt war. Und plötzlich begriff Jenny, daß er es auch hörte. Die Stimmen und Schritte waren keine Einbildung.

»Du ... hast recht«, sagte er gepreßt. »Vielleicht finden wir eine andere Stelle, an der wir übernachten ...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Die wispernden Stimmen verstummten. Das Lachen hörte auf, und die Schatten zogen sich zurück, hörten auf, hierhin und dorthin zu huschen, sondern bildeten einen massigen, undurchdringlichen Kreis rings um sie herum. Plötzlich war es still, unheimlich still.

Aber nur für einen Augenblick. Ein helles, wimmerndes Geräusch durchdrang die Stille, ein Laut, als würde eine Tür in uralten Angeln bewegt...

Jenny fuhr mit einer abrupten Bewegung herum. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als sie sah, wie die Türen hinter ihr eine nach der anderen aufgingen.

Im ersten Moment sah sie nichts; nichts außer schwarzen Schatten und körperlosen, finsteren Dingen, die sich dahinter zu verbergen schienen. Dann kamen sie näher, lautlos, schleichend und unaufhaltsam.

Erst, als Jenny sah, was da mit lautlosen Bewegungen auf die Galerie hinausglitt, begann sie zu schreien ...

»Sagtest du: Salem?«

Es dauerte einen Moment, bis Howard auf meine Worte reagierte. Die letzten zweieinhalb Stunden hatte er mit halb geschlossenen Augen auf seinem Platz neben dem Fenster gesessen, außer einem gelegentlichen Seufzer keinen Laut von sich gegeben und - genau wie ich und Rowlf - ergeben darauf gewartet, daß die Fahrgäste, die in Carlisle zugestiegen waren, endlich wieder gingen. Howard hatte Platzkarten und Billets für das ganze Abteil gekauft, so daß wir eigentlich ungestört hätten fahren und reden können, aber der Zug war überfüllt, und der Schaffner hatte Howard mit einem gleichmütigen Achselzucken geantwortet, daß er die Passagiere schließlich nicht auf den Kohletender verfrachten könne - womit er recht hatte. Es waren ein Mann und zwei Frauen (wie aus ihren Gesprächen hervorging, ein Ehepaar in Begleitung der Schwiegermutter) gewesen; eigentlich drei nicht einmal unnette Personen, denen anzumerken war, wie unangenehm ihnen die ganze Situation war. Eigentlich hatte ich sie ganz sympathisch gefunden. Aber es redete sich schlecht über Hexen, Magier und GROSSE ALTE, wenn fremde Ohren mithörten ...

»Was?« fragte Howard.

Ich wiederholte meine Frage: »Salem«, sagte ich. »Als wir gestern abend mit ... Priscylla sprachen, erwähntest du Salem.« Das unmerkliche Stocken in meinen Worten mußte ihm auffallen. Obwohl ich mir alle Mühe gab, hatte ich die Ereignisse längst nicht verwunden, geschweige denn vergessen. Wie konnte ich auch? Ich liebte Priscylla noch immer. Jetzt vielleicht mehr als zuvor. Aber Howard ging nicht auf den warnenden Ton in meiner Stimme ein.

»Ich sagte Salem«, antwortete er und lehnte sich wieder zurück, als wolle er schlafen. Es war nicht das erste Mal, daß ich ihn auf seine Worte ansprach.

Und es war nicht das erste Mal, daß er nicht oder nur ausweichend antwortete. Aber diesesmal würde ich mich nicht mit einer Ausflucht abspeisen lassen. Seine Worte ergaben keinen Sinn, außer ...

Ich schüttelte den Gedanken ab und sah ihm scharf in die Augen. Howard lächelte, unterdrückte mit Mühe ein Gähnen und blickte auf die Landschaft, die vor dem Fenster vorüberhuschte. Der Zug fuhr jetzt, auf dem letzten, beinahe schnurgerade verlaufenden Stück der Strecke, mit voller Geschwindigkeit, und unsere Umgebung flog nur so an uns vorüber. In weniger als zwei Stunden würden wir Glasgow erreichen. Von dort aus sollte die Reise - wenigstens hatte Howard mir dies erklärt - mit einer Kutsche weitergehen, die er telegrafisch zum Bahnhof bestellt hatte. Wenn wir erst einmal in der Stadt waren, würde er sicher genug Gelegenheiten finden, mir nicht antworten zu müssen.

»Und?« fragte ich.

Howard bückte mit unverhohlenem Mißmut auf. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er die Penetranz, mit der ich auf einer Antwort beharrte, als äußerst lästig empfand. »Was - und?« fragte er.

»Ich möchte wissen, wie du deine Worte gemeint hast«, sagte ich, nicht sehr laut, aber mit großem Nachdruck. Etwas hatte sich zwischen uns geändert. Während der letzten beiden Tage war er wie ein väterlicher Freund zu mir gewesen, und jetzt ...

Ich konnte das Gefühl selbst nicht in Worte fassen. Es war keine Feindschaft, nicht einmal Mißtrauen. Aber es gab eine fühlbare Spannung zwischen uns. Er verschwieg mir etwas, und ich spürte es.

Howard seufzte, schüttelte den Kopf und rutschte auf dem unbequemen Sitz hin und her. »Du machst dir Sorgen um Priscylla«, sagte er, »Das verstehe ich, Junge. Aber sie ist bei Dr. Grays Freunden in den besten Händen. Sie haben Erfahrung in solchen Dingen, glaube mir. Wenn es jemanden gibt, der aus ihr wieder einen normalen Menschen machen kann, dann sie.«