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»Einen normalen Menschen?« Ich hatte Mühe, den Zorn in meiner Stimme zu unterdrücken. »Du sprichst von ihr, als wäre sie geistesgestört.«

Howard sah mich ernst an. »Das ist sie auch, Robert«, sagte er leise. »Nicht so, wie man das Wort normalerweise benutzt - sie ist nicht verrückt oder gar schwachsinnig. Aber ihr Geist ist verwirrt.« Er machte eine entsprechende Bewegung zur Stirn. »Sie hat sich mit Mächten eingelassen, denen sie nicht gewachsen ist, Robert. Sie ist nicht böse; nicht wirklich. Früher war sie sogar ein ausgesprochen liebenswerter Mensch. Und es wird sehr viel Zeit und Geduld nötig sein, sie wieder zu dem Menschen zu machen, der sie war.«

»In Salem«, fügte ich hinzu.

Howards Blick verfinsterte sich. »Bitte, Robert«, sagte er leise. »Fang nicht...«

»Du verschweigst mir etwas«, unterbrach ich ihn. Rowlf, der die ganze Zeit schweigend und mit geschlossenen Augen neben Howard gehockt und so getan hatte, als schliefe er - ohne daß ich darauf hereingefallen wäre -, hob träge das linke Augenlid und blinzelte mich an.

»Du verschweigst mir sogar eine ganze Menge«, fuhr ich in scharfem, beinahe aggressivem Ton fort. »Du hast mir weder gesagt, wohin ihr Priscylla bringt, noch, was dort mit ihr geschieht.«

»Weil ich es nicht weiß«, behauptete Howard. »Auch Dr. Gray weiß es nicht, und das ist auch gut so. Es geschieht zu unserer und ihrer Sicherheit. Die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind sehr vorsichtig. Aber sie wissen nicht, wer wir sind. Wir haben mächtige Feinde, weißt du, und wir müssen damit rechnen, daß einer von uns in ihre Hände fällt. Was er nicht weiß, kann er nicht preisgeben.« Er lachte. »Das ist ein uralter Trick, den zum Beispiel Spionageringe verwenden, um ...«

»Du weichst mir schon wieder aus«, unterbrach ich ihn. »Was hatten deine Worte zu bedeuten? Salem ist seit über hundert Jahren zerstört, und Priscylla ...«

»Lyssa«, sagte Howard ruhig. »Ihr wirklicher Name ist Lyssa.«

»Das ändert nichts daran, daß Salem vor mehr als einem Jahrhundert vernichtet worden ist.«

»Isses nich«, nuschelte Rowlf. Ich hielt verstört inne und sah ihn an. Rowlf gähnte, ohne sich die Mühe zu machen, dabei etwa die Hand vor den Mund zu nehmen, kratzte sich mit den Fingern an seinem Stoppelbart und blickte mich triefäugig an. Sein Bulldoggengesicht wirkte verschlafen.

»Rowlf hat recht«, sprang Howard hilfreich - und eine Spur zu schnell - ein. »Salem wurde nicht vernichtet, wie die meisten glauben. Es gab ein Progrom, bei dem Dutzende von Menschen getötet wurden, aber der Ort selbst existiert noch heute. Ich war dort, vor ein paar Jahren. Damals habe ich Lyssa - Priscylla - getroffen.«

Ich glaubte ihm kein Wort. Es hätte nicht einmal meines Talentes, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, bedurft, um zu erkennen, daß er log. Aber warum? Welchen Grund sollte er haben, mich zu belügen? Außer dem, daß er glaubte, mich vor irgend etwas schützen zu müssen.

»Lyssa«, murmelte ich. »Das ist ihr richtiger Name?«

Howard nickte.

»Und weiter?«

»Weiter?«

»Kein Nachname, keine Familie, nichts?«

Howard druckste herum. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. Eine weitere Lüge. »Und es spielt auch keine Rolle.« Er seufzte, blickte wieder aus dem Fenster und fuhr, ohne mich anzusehen, fort: »Es ist nicht mehr weit bis Glasgow, Robert. Wenn der Wagen pünktlich am Bahnhof ist, dann können wir gleich weiterfahren. Wir sollten noch etwas essen, solange Zeit ist. Später werden wir keine Gelegenheit mehr dazu haben.« Er stand auf. »Laß uns in den Speisewagen gehen.«

Ich starrte ihn finster an, aber diesmal ignorierte er meinen Blick, lächelte sogar und wandte sich mit einer abrupten Bewegung zum Gehen.

Matthew Carradine hielt die Laterne so, daß der Lichtschein durch die halb offenstehende Tür des Hauses fiel. Im Zentrum des flackernden, weißgelben Kegels erschienen Staub und Unrat, Bruchstücke von vermoderten Möbeln und dunkle, unidentifizierbare Klumpen - und die halb verwischten Spuren menschlicher Füße.

»Sie waren hier«, sagte Carradine. »Vor nicht allzu langer Zeit.«

Boldwinn trat mit einem raschen Schritt neben ihn, beugte sich vor und starrte einen Moment auf die durcheinanderlaufenden Fußspuren. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, sagten ihm die Abdrücke im Staub nicht sehr viel. »Sind Sie sicher, Carradine?« fragte er. Seine Stimme klang eisig; der einzige Ausdruck, der überhaupt darin mitschwang, war Verachtung.

Carradine sah wütend auf. »Hören Sie, Boldwinn«, schnappte er. »Ich ...«

Boldwinn brachte ihn mit einer zornigen Bewegung zum Verstummen. Als er Carradine ansah, huschte ein Ausdruck über seine Züge, als betrachte er ein vielleicht interessantes, aber nichtsdestotrotz lästiges Insekt, das er am Schluß doch zerquetschen würde, so oder so. »Mister Boldwinn«, sagte er betont.

Carradine sog hörbar die Luft ein. Die Laterne in seiner Hand zitterte. Der Lichtstrahl huschte wie ein bleicher Finger über Boldwinns Gesicht und tastete unstet an den zerbröckelnden Außenmauern des Hauses entlang. »Wie Sie wollen, Mister Boldwinn«, sagte er. »Aber ich bin sicher, daß sie hier waren. Ich wäre es auch, wenn ich diese Spuren nicht gesehen hätte. Charles ist als Kind immer hierher gekommen, wenn er ein Versteck brauchte. Er hat wohl geglaubt, wir wüßten nichts von diesem Haus, und wir haben ihn in diesem Glauben gelassen.«

Boldwinn lächelte kalt. »Sie scheinen mir überhaupt sehr seltsame Erziehungsmethoden zu haben«, sagte er eisig. »Das Benehmen Ihres Sohnes ...«

»Steht hier nicht zur Debatte«, fiel ihm Carradine ins Wort.

Boldwinns linke Augenbraue rutschte ein Stück weit seine Stirn empor. »Nicht?« wiederholte er mit gespielter Verwunderung. »Sie werden sich wundern, was alles zur Debatte steht, wenn Ihr feiner Sohn meine Tochter auch nur angerührt hat. Sie ist noch ein Kind, vergessen Sie das nicht.«

»Ein Kind?« Carradine lachte, aber seiner Stimme fehlte die nötige Selbstsicherheit. Boldwinn war ein mächtiger Mann, das wußte er. Wenn Charles die Kleine auch nur falsch angesehen hatte, würde Boldwinn ihn vernichten, das war ihm klar. Und es war auch der einzige Grund, aus dem er hier war. Charles würde ihn hassen, wenn ausgerechnet er, sein eigener Vater, ihn verriet. Und vermutlich würde er es mit Recht tun. Aber er hatte keine Wahl.

»Lassen wir das«, sagte er, ohne Boldwinn dabei anzusehen. »Ich bin sicher, daß sie hier irgendwo sind. Das Schloß ist aufgebrochen worden, sehen Sie? Und die Spuren führen nur hinein, nicht wieder hinaus. Kommen Sie.« Er machte eine einladende Bewegung mit der Laterne, schob die Tür ein Stück weiter auf und trat in die darunterliegende Halle. Boldwinn folgte ihm nach kurzem Zögern. Auf seinem bleichen Stutzer-gesicht erschien ein angewiderter Ausdruck, als er den Staub und den Unrat sah, die die Jahrzehnte in der Halle abgeladen hatten.

Carradine hielt seine Laterne höher, beugte sich ein wenig vor und folgte der Fußspur, die sich deutlich im knöcheltiefen Staub abzeichnete. Sie führte in gerader Linie zur Treppe und brach dann ab. Aber es war nicht schwer zu erraten, wohin sie führte. Carradine deutete mit einer Kopfbewegung nach oben, wartete, bis Boldwinn aufgeholt hatte und neben ihm stehengeblieben war und ging dann ohne ein Wort weiter. Auf der obersten Stufe blieb er stehen, hob seine Laterne höher über den Kopf und versuchte, im Staub zu seinen Füßen die Spuren wiederzufinden. Es gelang ihm, aber sie verschwanden schon nach wenigen Metern erneut.

So abrupt, als hätten sich die beiden Menschen, von denen sie stammten, in Luft aufgelöst ...

Carradine blinzelte verwirrt. Boldwinn bemerkte sein Zögern, runzelte die Stirn und wollte an ihm vorbeitreten, aber Carradine hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück. »Nicht«, sagte er. »Sie verwischen nur die Spur. Sehen Sie.«