Boldwinn blickte gehorsam in die Richtung, in die sein ausgestreckter Arm wies, aber der fragende Ausdruck auf seinen Zügen änderte sich nicht. »Was meinen Sie?« fragte er.
»Die Spuren«, murmelte Carradine verstört. »Sehen Sie sich die Spuren an, Boldwinn.«
Boldwinn gehorchte. »Und?« fragte er.
»Verdammt, sind Sie blind?« schnappte Carradine. »Fällt Ihnen nichts auf? Sie beginnen hier - und wo enden sie, bitteschön?«
»Sie ...« Boldwinn verstummte verwirrt, blickte ein paarmal von seinem Gesicht auf die Fußspur, die so abrupt abbrach und wieder zurück, und sog hörbar die Luft ein. Sein Gesicht verfinsterte sich.
»Hören Sie, Carradine«, sagte er leise. »Wenn das ein Trick ist, mit dem Sie Ihren Herrn Sohn schützen wollen ...«
»Aber natürlich«, unterbrach ihn Carradine wütend. »Ich habe genau gewußt, was die beiden vorhaben, wissen Sie? Ich bin gestern schon hierher gekommen und habe diese falsche Spur gelegt, um Sie zu täuschen, Boldwinn. Ich habe meine Schuhe an den Füßen und die Ihrer Tochter an den Händen getragen und bin hier heraufgekrochen, damit alles ganz echt aussieht. Und dann, als ich hier war, habe ich meine Flügel ausgeklappt und bin weggeflogen.«
Boldwinn schluckte und starrte ihn mit einer Mischung aus Zorn und Verwirrung an. »Aber das ist doch unmöglich«, sagte er, noch immer laut, aber jetzt in einem Tonfall, der eher hilflos als aggressiv klang. »Eine Spur kann doch nicht einfach im Nichts enden.«
»Diese hier tut es aber«, schnappte Carradine.
»Und was ... was tun wir jetzt?«
Carradine zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, brummte er. »Aber es wird uns wohl nicht viel anderes übrig bleiben, als das Haus Zimmer für Zimmer zu durchsuchen.«
»Allein?« entfuhr es Boldwinn. »Dieses Haus muß Dutzende von Zimmern haben, Carradine!«
»Wir können natürlich auch zurückgehen und Hilfe holen«, erwiderte Carradine gelassen. »Aber machen Sie mich nicht verantwortlich, wenn dann niemand mehr hier ist.«
Boldwinn zögerte. Sein Blick wanderte den Weg zurück, den sie gekommen waren, und saugte sich einen Herzschlag lang an der offenstehenden Tür fest. Sein Gesicht wirkte im grellen Schein der Laterne noch bleicher, als es ohnehin war. Seine Nasenflügel bebten. Wenn Carradine jemals einem Menschen gegenübergestanden war, der Angst hatte, dann ihm.
Aber trotzdem nickte er nach einer Weile. »Sie haben recht«, murmelte er. »Durchsuchen wir das Haus. Wo fangen wir an?«
Carradine deutete mit der Hand nach rechts und mit dem Kopf nach links. »Sie dort und ich auf der anderen Seite«, sagte er. »Dann geht es schneller.«
»Allein?« Boldwinn schluckte. »Sie meinen, wir sollen uns trennen?«
»Sie haben es selbst gesagt«, antwortete Carradine. »Das Haus hat Dutzende von Zimmern. Wir brauchen bis Sonnenaufgang, wenn wir sie alle durchsuchen wollen. Wenn wir uns teilen, sind wir schneller.«
»Aber ich - wir haben nur eine Laterne«, stammelte Boldwinn.
Carradine unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. Es bereitete ihm ein geradezu sadistisches Vergnügen, zu sehen, wie Boldwinn vor Angst zitterte. »Fürchten Sie sich im Dunkeln?« fragte er hämisch.
Für einen Moment blitzte in Boldwinns Augen Zorn auf. Aber die Furcht war größer und gewann rasch wieder die Oberhand. »Das spielt keine Rolle«, antwortete er. »Aber wir haben nichts davon, wenn einer von uns im Dunkeln herumstolpert.«
»Es gibt genug Kerzen hier«, entgegnete Carradine ruhig.
»Und unten in der Halle war ein Wandhalter mit einer Fackel. Warum holen Sie sie nicht?«
Boldwinn blickte ihn unsicher an. »Ich warte hier«, fügte Carradine nach einigen Sekunden hinzu. »Aber Sie sollten sich beeilen. Wahrscheinlich hört man unsere Stimmen durch das ganze Haus. Es würde mich nicht wundern, wenn Charles und Jenny schon wissen, daß wir hier sind.«
Boldwinn nickte verkrampft, drehte sich herum und begann vorsichtig die Treppe wieder herabzugehen. Carradine überlegte einen Moment, ob er die Sache auf die Spitze treiben sollte, entschied sich aber dann dagegen und hielt seine Laterne so, daß ihr Schein Boldwinn den Weg wenigstens notdürftig erhellte. Im Moment war er zweifellos in der stärkeren Position, aber er kannte Boldwinn gut genug, um zu wissen, daß er ihm jede Sekunde, die sie in diesem Haus verbrachten, doppelt und dreifach zurückzahlen würde - ganz gleich, ob sie seine Tochter fanden oder nicht.
Boldwinn klapperte und rumorte eine Weile unten herum und kam dann mit weit ausgreifenden Schritten zurück. Sein teurer Maßanzug war verdreckt, und in seinem Haar klebten graue Spinnweben. Ein gehetzter Ausdruck lag auf seinen Zügen. Sein Blick glitt an Carradine vorbei und huschte unstet über die geschlossenen Türen, die die Galerie säumten. Carradine ließ sich zu einem schadenfrohen Lächeln hinreißen - aber er mußte sich auch gleichzeitig eingestehen, daß er selbst nicht halb so ruhig war, wie er sich gab. Das Haus übte einen seltsamen, unheimlichen Einfluß auf ihn aus. Wenn er ganz ehrlich war, dann mußte er sich eingestehen, daß er Angst hatte.
Er entzündete die Fackel, reichte Carradine seine Laterne und hielt das brennende Holz hoch über den Kopf. Es war besser, wenn Boldwinn die Laterne hatte - mit der brennenden Fackel in der Hand würde dieser Trottel am Ende noch das ganze Haus anstecken. Boldwinn schien etwas sagen zu wollen, aber Carradine winkte rasch ab, deutete noch einmal mit einer Kopfbewegung nach rechts und machte sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg. Sein Blick tastete über den knöcheltiefen Staub auf dem Boden. Die flockige graue Schicht war unbeschädigt und höchstens da und dort von den Spuren winziger Rattenfüßchen durchbrochen; wenn Charles und Jenny in eines dieser Zimmer gegangen wären, hätte er es gesehen. Aber andererseits: wenn sie es fertiggebracht hatten, ihre Spuren einfach so abbrechen zu lassen, dann ...
Er verscheuchte den Gedanken, ging bis zum Ende des Korridors und öffnete die letzte Tür. Weit hinter sich, am anderen Ende der Galerie, hörte er Boldwinn eine andere Tür öffnen.
Knarrend schwang die Tür auf. Die zuckenden Flammen seiner Fackel warfen irrlichternde rote Blitze gegen die Decke und die Wände, und die Bewegung und der plötzliche Luftzug - vielleicht der erste seit einem Menschenalter - ließen Staub in dichten, brodelnden Schwaden vom Boden hochsteigen. Carradine trat zögernd durch die Tür, hob seine Fackel ein wenig höher und sah sich mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen um.
Das Zimmer bot einen Anblick der Zerstörung. Früher mußte seine Einrichtung einmal kostbar und von großem Geschmack gewesen sein. Jetzt war sie zerstört. Nicht zerfallen und vermodert, wie Carradine auffiel, sondern gründlich zerschlagen, als hätte jemand in einem Anfall von Raserei jedes einzelne Möbelstück zertrümmert. Überall lag Staub und Schmutz. Das Fenster war vernagelt, die Scheiben zerborsten, ohne auseinandergebrochen zu sein, und das hintere Drittel des Raumes war hinter einem massiven grauen Vorhang aus ineinander verflochtenen Spinnweben verborgen.
Hinter dem Vorhang bewegte sich etwas.
Carradines Herz begann rasend und schmerzhaft zu schlagen. Instinktiv machte er einen Schritt, blieb aber abrupt wieder stehen und starrte aus schreckgeweiteten Augen auf den verzerrten Schatten, der sich hinter dem grauen Vorhang abzeichnete.
»Charles?« fragte er halblaut. Seine Stimme klang unsicher. Der Schatten hinter den Spinnweben bewegte sich wieder, aber Carradine konnte immer noch nicht erkennen, was es war.
Eine faustgroße Spinne fiel mit einem hörbaren Geräusch aus dem Netz und begann langsam auf ihn zuzukriechen. Ekel stieg in Carradine hoch, aber gleichzeitig auch Erstaunen. Er hatte niemals eine Spinne von dieser Größe gesehen. Einen Moment lang beobachtete er das sinnverwirrende Spiel ihrer Beine, dann senkte er seine Fackel und verbrannte sie.
Langsam ging er weiter. Der Schatten hinter dem Vorhang bewegte sich erneut, und als Carradine näherkam, erkannte er weitere, kleinere, dunkle Punkte ...