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Dann, mit einem Ruck, stand die Gestalt auf und zerriß den grauen Vorhang.

Carradine schrie gellend auf. Für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen stand er gelähmt vor Schrecken da und starrte auf das grauenerregende Bild, das ihm die zuckenden roten Flammen der Fackeln enthüllten.

Es waren nicht eine, sondern zwei Gestalten, die Gestalten zweier Menschen, die nur so eng ineinander verschlungen gewesen waren, daß sie durch den grauen Schleier hindurch wie eine einzige gewirkt hatten.

Es waren Jenny und Charles.

Sie waren nackt, beide. Ihre Kleider lagen in Fetzen und vermodert auf dem Boden und dem verrotteten Bett, auf dem sie gesessen hatten.

Und über das Bett, über den Boden, die zerrissenen Kleider und vermoderten Decken und ihre Körper krochen Dutzende von faustgroßen, mit drahtigem, schwarzem Haar bedeckte Spinnen ...

Carradine erwachte mit einem gurgelnden Schrei aus seiner Erstarrung, als die beiden jungen Menschen auf ihn zutraten und ihnen die Spinnen wie eine quirlende schwarze Woge folgten. Halb wahnsinnig vor Furcht wirbelte er herum und rannte los. Fünf, sechs der ekelhaften haarigen Tiere fielen wie kleine pelzige Bälle von der Decke, prallten auf seine Schulter und seinen Rücken und krallten sich in seinen Kleidern fest. Haarige Beine tasteten über sein Gesicht. Carradine schrie, fegte die Tiere angeekelt zur Seite und schwang seine Fackel. Die Flammen zeichneten einen feurigen Halbkreis in die Luft, und die Hitze vertrieb die Tiere; wenn auch nur für einen Augenblick. Carradine taumelte weiter, prallte mit dem Gesicht schmerzhaft gegen den Türrahmen und torkelte auf die Galerie hinaus. Er hörte Boldwinns Stimme, verstand aber die Worte nicht, sondern lief weiter, noch immer schreiend und dem Wahnsinn nahe. Hinter ihm quoll ein schwarzer, vierbeiniger Teppich aus winzigen Körpern aus der Tür.

»Carradine?« Boldwinns Stimme drang nur wie durch einen dämpfenden Schleier in sein Bewußtsein. Der tanzende Schein einer Laterne tauchte vor ihm auf der Galerie auf, huschte über den staubbedeckten Boden und blendete ihn einen Moment. Er hörte, wie Boldwinn voller Entsetzen aufschrie, dann klirrte irgend etwas; die Laterne erlosch.

Carradine torkelte weiter, prallte gegen die steinerne Brüstung der Galerie und verlor um ein Haar das Gleichgewicht. Verzweifelt blickte er sich um. Die Spinnen kamen näher.

Für einen Moment - nur einen Moment - gewann sein klares Denken wieder die Oberhand. Carradine wechselte die Fackel von der Linken in die Rechte und schwang das brennende Holz wie eine Waffe. Die Hitze trieb die Spinnen zurück, aber aus der offenstehenden Tür drängten immer mehr und mehr nach, nicht mehr Dutzende jetzt, sondern Hunderte. Der Mosaikfußboden der Galerie verschwand unter einer schwarzen, kribbelnden, haarigen Masse, die wie eine zähe Woge näherschwappte.

»Boldwinn!« keuchte er. »Zur Treppe! Laufen Sie!«

Er wußte nicht, ob Boldwinn auf seine Worte reagierte. Sein Angriff hatte den Vormarsch der Spinnen ins Stocken gebracht, aber von hinten drängten immer mehr und mehr der ekelhaften Tiere nach, und hinter ihnen ...

Carradines Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er die beiden aneinandergeklammerten Schatten sah. Sein Sohn und Boldwinns Tochter torkelten mit mühsamen, abgehackt wirkenden Bewegungen aus der Tür. Ihre Gesichter waren leer, der Blick ihrer Augen erloschen; ihre Münder standen offen, was ihnen den Ausdruck von Schwachsinnigen verlieh. Die Armee der Spinnen teilte sich vor ihren Füßen, so daß eine schmale, quirlende Gasse entstand, die sich aber hinter ihnen sofort wieder schloß.

Carradine vergaß die Spinnen, als die beiden nackten Gestalten näherkamen. Langsam, Schritt für Schritt, wich er zurück, unfähig, den Blick von dem leeren Gesicht seines Sohnes zu wenden. Charles' Augen waren erloschen. Er ist tot, dachte Carradine entsetzt. Tot - oder Schlimmeres. Aber der Gedanke erreichte sein Bewußtsein kaum, sondern verging in der Woge von Entsetzen und Wahnsinn, die sein Denken zu überschwemmen drohte. Er fühlte die harte Kante der Galerie-brüstung in seinem Rücken, spürte, wie er sich weiter und weiter zurückbog, als die Schreckensgestalt, die einmal sein eigener Sohn gewesen war, näher kam, und irgendwo tief in ihm begann eine Alarmglocke zu schlagen, aber auch diese Warnung verhallte ungehört.

Langsam hob Charles die Hand. Seine Finger deuteten fast anklagend auf Carradine, zitterten, kamen näher und verharrten wenige Zentimeter vor seinem Gesicht reglos in der Luft.

Eine Spinne krabbelte über seine Schulter, blickte Carradine aus ihren acht stecknadelkopfgroßen funkelnden Augen einen Sekundenbruchteil lang boshaft an und begann dann auf wirbelnden Beinchen über Charles' Arm auf ihn zuzulaufen. Etwas berührte seine Beine, leicht, tastend, kroch an seinem Knöchel empor und schlüpfte in seine Hose.

Carradine stieß einen gellenden, unglaublich schrillen Schrei aus, warf sich zurück und stürzte mit haltlos wirbelnden Armen über das Geländer in die Tiefe.

Seine Fackel erlosch, als er auf dem Steinboden aufprallte.

»Da is nix zu machen«, sagte Rowlf kopfschüttelnd. Mit einem resignierenden Seufzen ließ er den Vorderlauf des Pferdes los, tätschelte dem Tier mit einer unbewußten Geste den Hals und wandte sich zu uns um. »Der Gaul läuft keine Meile mehr. Ein Wunder, dasser noch nich zusammengebrochn is«, sagte er.

»Verdammt«, murmelte Howard. »Und das ausgerechnet hier.« Er atmete hörbar ein, biß sich einen Moment auf die Unterlippe und sah mit einem gleichermaßen gequälten wie resignierenden Blick die Straße hinab. Vor einer knappen halben Stunde waren die Häuser einer kleinen Ortschaft an den Fenstern des Wagens vorübergezogen; seitdem hatten wir nichts als Wald gesehen. Es war dunkel geworden, und die Bäume säumten die Straße zu beiden Seiten wie eine finstere, undurchdringliche Mauer. Es war kalt.

»Ich fürchte, wir werden umkehren müssen«, sagte er bedauernd. »Damit dürfte unser Zeitplan über den Haufen geworfen sein. Gründlich.«

»Umkehren?« fragte ich. Wir waren praktisch ununterbrochen gefahren, seit wir Glasgow erreicht und den Zug verlassen hatten. Die Vorstellung, auch nur eine einzige der Meilen, die wir so mühsam gereist waren, wieder zurückzufahren, erfüllte mich mit einem instinktiven Widerwillen. Und Howard hatte recht - unser Zeitplan war ohnehin knapp bemessen. Wir konnten es uns nicht leisten, eine ganze Nacht zu verlieren.

Howard nickte. »Die Ortschaft, durch die wir gekommen sind«, erinnerte er. »Mit etwas Glück finden wir dort jemanden, der uns ein frisches Pferd verkauft oder leiht. Allerdings ist es schon spät«, fügte er achsekuckend hinzu.

»Und wenn wir das Pferd abschirren und nur mit einem Zugtier weiterfahren?« fragte ich.

»Geht nich«, antwortete Rowlf an Howards Stelle. »Wir sin zu schwer für nur ein Tier. Der Gaul würde bloß schlappmachn.«

Howard nickte. »Rowlf hat recht. Ich möchte nicht mitten auf der Straße liegenbleiben. Komm - helfen wir Rowlf.«

Diesmal widersprach ich nicht, sondern trat gehorsam neben ihn und seinen hünenhaften Diener und begann, die Schirrriemen des Pferdes zu lösen. Die Vorstellung, auf dieser abgelegenen Straße übernachten zu müssen, behagte mir ganz und gar nicht. Ich habe niemals Angst vor der Dunkelheit gehabt oder etwas ähnlich Albernes - aber dieser schwarze Wald, dessen Bäume die Straße zu erdrücken und mit dürren, blattlosen Ästen wie mit schwarzen Armen auf uns herabzugreifen schienen, erfüllte mich mit Unbehagen, ohne daß ich sagen konnte, warum. Vielleicht hatte ich in den letzten Wochen einfach zu viel erlebt. Ich hatte die Vorstellung, daß ich der Sohn eines Hexers war und Dinge wie Zauberer und Dämonen real existierten und in die Welt der Menschen eingreifen konnten, akzeptiert, weil ich es mußte. Aber das hieß nicht, daß ich sie schon verarbeitet hatte. Der Spruch, daß man sich an jeden Schrecken gewöhnt, wenn er nur lange genug andauert, ist nicht wahr, im Gegenteil. Nach einer Weile fängt man an, hinter jedem Schatten eine Gefahr und in jedem Geräusch eine Bedrohung zu vermuten.