»Jemand kommt«, murmelte Rowlf.
Ich sah auf, trat einen halben Schritt auf die Straße hinaus und blickte in die Richtung, in die er gewiesen hatte: zurück dorthin, wo wir hergekommen waren. Im ersten Moment konnte ich weder etwas Außergewöhnliches sehen noch hören. Aber Rowlf schien über schärfere Sinne zu verfügen als ich, denn nach ein paar Augenblicken hörte ich Hufschlag, dann begann sich der Schatten eines einzelnen Reiters gegen das Schwarzgrau des Waldes abzuheben.
Der Mann kam in scharfem Tempo näher und zügelte sein Tier erst wenige Schritte vor unserer Kutsche. Das Pferd stampfte unruhig, und der Wind trug den scharfen Geruch seines Schweißes zu mir. Er mußte sehr schnell geritten sein.
»Guten Abend, die Herren«, sagte er steif. »Sie haben Schwierigkeiten?«
Die Frage war rein rethorisch. Rowlf hatte das Pferd vollends abgeschirrt, während Howard und ich dem Fremden entgegengetreten waren, aber das Tier scheute noch immer und zog schmerzhaft das rechte Vorderbein an.
»Ich fürchte«, antwortete Howard. »Eines unserer Pferde hat sich einen Stein in den Huf getreten. Und das zweite allein wird die Kutsche nicht ziehen können.«
Der Mann hob den Kopf und blickte für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen auf unser Fahrzeug. Obwohl ich sein Gesicht in der Dunkelheit nur als hellen Fleck erkennen konnte, entging mir der Blick, mit dem er unsere Kalesche musterte, keineswegs. Es war ein Blick, dem nicht die geringste Winzigkeit entging. Ein Blick, der mir nicht gefiel. Aber ich schwieg.
»Ein denkbar ungünstiger Platz für einen Halt«, sagte er, nachdem er seine Musterung beendet hatte. »Bis zur nächsten Stadt sind es fast fünf Meilen. Sie sind auf einer weiten Reise?«
Howard ignorierte seine Frage und rang sich sogar zu einem freundlichen - wenn auch spürbar kühlen - Lächeln durch. »Wir dachten an die Ortschaft, durch die wir gekommen sind«, sagte er. »Vielleicht gibt es dort ...«
»Dort gibt es absolut niemanden, der Ihnen helfen wird«, unterbrach ihn der Reiter kopfschüttelnd. Howard runzelte die Stirn, und der Fremde fuhr nach einer Sekunde fort: »Die einzigen Pferde, die es dort gibt, sind ein paar Ackergäule, die Ihre Kutsche zuschanden schlagen würden, wenn Sie versuchten, sie einzuspannen. Und die fünf Meilen bis nach Oban«, fügte er mit einer Handbewegung nach Norden hinzu, »schaffen Sie nicht mit nur einem Pferd.«
Howard seufzte. »Dann werden wir wohl zu Fuß gehen müssen«, murmelte er. »Jedenfalls können wir nicht hier übernachten.«
Der Fremde lachte; ein dunkler, unsympathisch klingender Laut. Sein Pferd scheute und scharrte unruhig mit den Vorderläufen, aber er brachte es mit einem brutalen Ruck zur Ruhe. »Das können Sie nicht«, bestätigte er. »Aber Sie müssen auch nicht zu Fuß gehen. Mein Haus ist keine halbe Meile von hier entfernt. Wenn Sie mit meinem Gästezimmer Vorlieb nehmen wollen, können Sie die Nacht dort verbringen. Morgen früh kümmere ich mich darum, daß Sie ein frisches Pferd bekommen. Oder besser gleich zwei«, fügte er mit einem Seitenblick auf das zweite, noch angespannte Tier hinzu.
Howard zögerte. Ohne ihn anzusehen spürte ich, daß ihm der hochgewachsene Fremde mindestens ebenso suspekt vorkam wie mir. Aber wir hatten keine große Wahl.
»Das ... wäre überaus freundlich von Ihnen Mister ...«
»Boldwinn«, sagte der Fremde. »Lennon Boldwinn, Sir. Zu Ihren Diensten.«
Howard deutete eine Verbeugung an. »Phillips«, sagte er. »Howard Phillips. Mein Neffe Richard, und Rowlf, unser Hausdiener und Kutscher.« Nacheinander deutete er auf mich und Rowlf; gleichzeitig warf er mir einen raschen, beschwörenden Blick zu. Ich widerstand im letzten Moment der Versuchung, zu nicken. Sicher, es gab keinen Grund, Boldwinn zu mißtrauen - aber es gab auch keinen Grund, ihm zu trauen.
Und wir hatten schon in London verabredet, unter falschem Namen zu reisen.
»Dann kommen Sie, Mister Phillips«, sagte Boldwinn knapp. »Es ist spät, und ich habe einen weiten Weg hinter mir und bin müde. Steigen Sie in Ihre Kutsche. Ich reite voraus.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sein Pferd antraben und ritt an uns vorüber. Für einen ganz kurzen Moment konnte ich sein Gesicht im bleichen Licht des Mondes genauer erkennen. Es ähnelte auf schwer zu beschreibende Weise dem Howards - schmal, von scharfem, beinahe - aber eben nur beinahe - aristokratischem Schnitt, mit dunklen Augen und eingerahmt von einem pedantisch ausrasierten King-Arthur-Bart. Seine Haut schien mir unnatürlich bleich, aber ich war mir nicht sicher, ob dieser Eindruck nicht einfach am Licht lag. Und er hockte in unnatürlich verkrampfter Haltung im Sattel. Entweder hatte er wirklich einen sehr langen und anstrengenden Ritt hinter sich, oder er war - was mir wahrscheinlicher schien - kein sehr geübter Reiter.
Howard berührte mich am Arm und deutete auf die Kutsche. Rowlf hatte das überzählig gewordene Geschirr mittlerweile zu einem Bündel verschnürt und zwischen unser Gepäck auf das Dach der Kutsche geworfen. Das verletzte Tier stand ein Stück abseits, aber ich wußte, daß es uns folgen würde, sobald die Kutsche anfuhr.
Wir stiegen wieder in den Wagen. Howard schloß die Tür, schob jedoch den Vorhang zur Seite und setzte sich so, daß er aus dem Fenster blicken und Boldwinn unauffällig im Auge behalten konnte. Rowlf ließ seine Peitsche knallen; der Wagen setzte sich schaukelnd in Bewegung. Das Knarren der schweren, hölzernen Räder auf der staubigen Straße schien mir lauter als vorher.
»Was hältst du von ihm?« fragte Howard nach einer Weile.
»Boldwinn?« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht, daß ich ihn mag«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber zumindest bewahrt er uns davor, auf offener Straße übernachten zu müssen.«
Howard runzelte die Stirn. »Vielleicht wäre das besser«, murmelte er. Die Worte schienen mehr für ihn selbst als für mich bestimmt, aber ich antwortete trotzdem darauf.
»Du traust ihm nicht?«
»Trauen ...« Howard seufzte. »Wahrscheinlich sehe ich Gespenster«, sagte er. »Aber es kommt mir seltsam vor, daß er ausgerechnet jetzt auftaucht. Immerhin sind wir seit fast zwei Stunden keiner Menschenseele begegnet. Sein Hilfsangebot kam ziemlich schnell.«
»Ich dachte immer, die Engländer sind besonders hilfsbereite Menschen.«
Howard lachte leise. »Jeder Mensch ist hilfsbereit, wenn er Gründe dafür hat«, antwortete er zweideutig. »Aber vermutlich hast du recht - wir sollten froh sein, daß wir nicht wirklich auf der Straße schlafen müssen.«
»Und wie geht es weiter?«
Howard schwieg einen Moment. »Dieses kleine Unglück ändert nichts an unserem Plan«, antwortete er schließlich. »Ich habe Freunden in Durness telegrafiert, daß wir kommen. Sie werden eine gewisse Verspätung einkalkulieren.«
Der Klang der Hufschläge änderte sich. Die Kutsche begann stärker zu schaukeln und legte sich schließlich wie ein Schiff auf hoher See auf die Seite. Ein harter Stoß traf die kaum gefederten Achsen und beutelten Howard und mich, als Rowlf den Wagen hinter unserem Führer auf einen schmalen, von tiefen Schlaglöchern und Gräben durchzogenen Waldweg lenkte.
Für den Rest des Weges wurde eine Unterhaltung unmöglich. Howard und ich hatten alle Hände voll zu tun, nicht von den Sitzen geworfen zu werden oder unentwegt mit dem Kopf gegen die Decke zu prallen, wenn ein neuer Stoß den Wagen traf, und ich rechnete ernsthaft damit, daß die Achse brechen oder die Kalesche schlichtweg umstürzen würde. Ich versuchte, aus dem Fenster zu sehen, aber alles, was ich erkennen konnte, war Schwärze, in der nur ab und zu ein paar Schatten auftauchten und wieder verschwanden. Der Weg war so schmal, daß Unterholz und Geäst an beiden Seiten scharrend an der Kutsche entlangschrammten, und in einem Zustand, als wäre er jahrelang nicht mehr benutzt worden.