»Sie ... leben allein hier?« fragte ich, um auf ein anderes Thema zu kommen.
Boldwinn starrte mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er Syphilis habe. »Nein«, sagte er. »Außer Carradine wohnen noch meine Tochter und mein Neffe Charles hier. Aber die schlafen beide schon. Sie werden sie morgen beim Frühstück kennenlernen - wenn Sie Wert darauf legen.« Er wandte sich abrupt um und klatschte in die Hände. »Carradine!« sagte er. »Hast du nicht gehört? Einen Imbiß für vier - husch, husch!«
Carradine grunzte, blickte uns der Reihe nach aus seinem einzigen verquollenen Auge an und humpelte dann davon. Er erinnerte mich tatsächlich ein bißchen an Quasimodo ...
»Aber was stehen wir hier noch herum?« fuhr Boldwinn fort, als der Krüppel gegangen war. »Es wird eine Weile dauern, ehe das Essen fertig ist. Gehen wir in die Bibliothek. Dort redet es sich besser.«
Er wartete unsere Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und ging mit raschen Schritten auf eine Tür in der Seitenwand zu. Ich tauschte einen langen, fragenden Blick mit Howard. Er schwieg, aber das Gefühl in seinen Augen entsprach dem in meinem Inneren. Man mußte kein Hellseher sein, um zu spüren, daß mit diesem Haus und seinen Bewohnern etwas nicht stimmte.
Aber ich war plötzlich gar nicht mehr begierig darauf, herauszubekommen, was es war.
Die Bibliothek war ein gewaltiger, bis unter die Decke mit Regalen vollgestopfter Raum, dessen gesamte Einrichtung aus einem rechteckigen, polierten Tisch und vier Stühlen bestand. Dicke, sicherlich kostbare Teppiche bedeckten den Boden, und im Kamin - mit Ausnahme der Fenster und der Tür der einzige Fleck, der nicht mit Büchern vollgestopft war - brannte ein gewaltiges Feuer. Boldwinn deutete mit einer einladenden Geste auf den Tisch, wartete, bis wir an ihm vorübergegangen waren und schloß die Tür.
Erstaunt blieb ich stehen.
Der Tisch war nicht leer. Auf dem polierten Holz stand ein verzierter silberner Leuchter mit nahezu einem Dutzend brennender Kerzen, und an seinen vier Kopfenden standen vier Teller, komplett mit Besteck, Gläsern und säuberlich gefalteten Servietten. Vier Teller ... dachte ich verwirrt. Fast, als hätte er uns erwartet.
»Erwarten Sie Gäste?« fragte Howard.
»Gäste?« Boldwinn blickte einen Moment lang irritiert von ihm zu mir und zurück, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Ach, das Geschirr, meinen Sie?« Er lächelte. »Nein. Aber Carradine bereitet immer schon alles für das Frühstück vor, bevor er zu Bett geht. Ich habe ihm tausendmal gesagt, daß ich das nicht will. Die Teller und Gläser stauben ein, wissen Sie? Aber es ist sinnlos. Er ist nun mal ein Krüppel, und leider nicht nur körperlich.« Er seufzte. »Aber setzen Sie sich doch, meine Herren.«
Howard starrte ihn eine endlose Sekunde lang durchdringend an, dann zuckte er mit den Achseln und gehorchte. Auch ich zog mir einen der Stühle heran und ließ mich darauf nieder, während Rowlf neben dem Kamin stehenblieb, sich unglücklich umsah und ganz offensichtlich nicht wußte, was er mit seinen Händen tun sollte. Boldwinn runzelte die Stirn und schenkte ihm einen langen, strafenden Blick, wandte sich dann aber wieder an Howard.
»Sie entschuldigen mich einen Moment«, sagte er. »Ich will sehen, wie weit Carradine ist. Ihre Zimmer müssen noch vorbereitet werden.«
»Machen Sie sich nur keine Umstände unseretwegen«, sagte Howard hastig. »Wir ...«
»Aber ich bitte Sie«, unterbrach ihn Boldwinn, und er tat es in einem Ton, der keinen weiteren Widerspruch duldete. »Es sind keine Umstände. Das Haus steht praktisch leer, und ich habe genug Zimmer, mit denen ich sowieso nichts anfangen kann. Ich bin gleich zurück.« Damit wandte er sich um und verließ den Raum.
Howard starrte ihm stirnrunzelnd nach, auch, als die Tür schon lange ins Schloß gefallen war. Es war nicht schwer, seine Gedanken zu erraten. Seine Finger spielten nervös mit dem kleinen Stöckchen, das er ständig mit sich herumschleppte. Aber er schwieg verbissen.
Schließlich hielt ich das Schweigen nicht mehr aus. »Also?« sagte ich.
Howard sah auf. »Was - also?«
»Du weißt, was ich meine«, sagte ich verärgert. »Was hältst du von ihm? Und von diesem Haus?«
»Was ich von ihm halte?« Howard wandte den Blick und starrte in die prasselnden Flammen im Kamin, als könne er die Antwort auf meine Frage dort lesen. »Das ist nicht so leicht zu sagen, Robert. Boldwinn ist ein seltsamer Mann, aber es ist noch kein Verbrechen, ein Exzentriker zu sein.«
Ich spürte deutlich, daß er nicht aussprach, was er dachte. Er fühlte wie ich, daß mit Boldwinn, seinem sonderbaren Diener und diesem ganzen Haus elwas nicht stimmte; ganz und gar nicht stimmte. Und auch Rowlf schien die boshafte Aura, die dieses Haus ausstrahlte, zu fühlen. Und er hatte weniger Hemmungen als Howard, seine Gefühle in Worte zu fassen.
»Der Kerl is meschugge«, sagte er. »Plemplem. Und außerdem isser mir unheimlich.«
Howard lächelte flüchtig. Kopfschüttelnd kramte er eine flache silberne Dose aus der Tasche, entnahm ihr eine seiner dünnen schwarzen Zigarren und suchte nach Streichhölzern. Als er keine fand, stand er auf, ging zum Kamin hinüber und ließ sich davor in die Hocke sinken.
»Am liebsten würde ich wieder fahren«, murmelte ich. »Mir wäre beinahe wohler, draußen im Wagen zu schlafen als in diesem Haus.«
»Geht mir genauso«, murmelte Rowlf. Er sprach sehr leise, aber auf seinem Gesicht lag ein nervöser Zug, und sein Blick huschte unentwegt hierhin und dorthin. Er war nervös. Wie wir alle.
Howard hatte seine Zigarre mit einem brennenden Span entzündet, richtete sich auf und trat neugierig an die Bücherregale heran, die den Kamin flankierten. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, da er mir den Rücken zudrehte, aber ich sah, wie sich seine Haltung für einen winzigen Augenblick versteifte und sein Kopf mit einer ruckhaften Bewegung hochflog.
»Ist irgend etwas?« fragte ich.
Howard antwortete nicht, sondern starrte einen Herzschlag lang die dichtgedrängt stehenden Bücher an, fuhr dann herum und eilte mit zwei, drei großen Schritten zu einem anderen Regal. Rowlf und ich beobachteten ihn verwirrt. Für mich waren die Bücher - nun Bücher eben. Ich hatte mir nie viel aus Geschriebenem gemacht (außer aus gedruckten Zahlen auf gewissen grünen Scheinen), und konnte Howards Begeisterung für alte Schmöker nicht einmal in Ansätzen teilen. Aber ich glaubte zu spüren, daß seine Erregung einen Grund hatte.
Schließlich, nachdem er fast zehn Minuten von einem Regal zum anderen gelaufen und kopfschüttelnd und wie ein Sabbergreis vor sich hinbrummelnd die ledernen Rücken begutachtet hatte, wandte er sich um und kam zum Tisch zurück. »Das ist phantastisch«, murmelte er. »Unglaublich.«
»Aha«, sagte ich.
Howard blinzelte, sog an seiner Zigarre und raffte sich zu einem entschuldigenden Lächeln auf. »Natürlich«, sagte er. »Du kannst es nicht wissen. Diese Bücher hier - das ist unglaublich.« Er setzte sich. Seine Zigarrenasche fiel auf den kostbaren Teppich, aber das schien er in seiner Erregung nicht einmal zu bemerken. »Du hast die Bücher in meinem Haus in London gesehen«, begann er. »Es ist die wahrscheinlich größte Sammlung okkulter Schriften und magischer Bücher in England - jedenfalls habe ich das bis gerade geglaubt. Aber das hier ...«
Allmählich begann ich zu begreifen. Mein Blick wanderte an den Regalen entlang, tastete über die dicht an dicht stehenden, ledergebundenen Bände ... »Du meinst«, fragte ich zweifelnd, »das hier wären alles ...«
»... Bücher über Hexerei, Magie und Okkultismus«, nickte Howard. »Ja. Es sind Bände darunter, deren Originale Tausende von Jahren alt sind, Bücher, die für längst verschollen gehalten wurden. Das ist -«
»- kein Zufall, Mister Phillips«, sagte eine Stimme von der Tür her. Howard zuckte zusammen und fuhr mit einer raschen, beinahe schuldbewußten Bewegung herum. Die Tür war wieder aufgegangen, und Boldwinn war zurückgekommen, ohne daß es einer von uns bemerkt hätte. Auf seinem Gesicht lag eine Mischung von Spott und Ärger. »Sie interessieren sich für Okkultes?«