»Was ist mit dir, Rob ... Richard?« fragte Howard leise. Seine Stimme klang besorgt.
»Nichts«, antwortete ich. Es fiel mir schwer, überhaupt zu sprechen. Mühsam schüttelte ich den Kopf, lächelte gequält, blickte verwirrt von Howard zu Boldwinn und zurück. »Nichts«, sagte ich noch einmal. »Es ist in Ordnung. Verzeihen Sie, Mister Boldwinn. Ich ... muß mich getäuscht haben.«
Boldwinn zog eine Grimasse. »Die Fahrt war sehr anstrengend, wie?« fragte er.
Ich verzichtete auf eine Antwort, ging an ihm vorbei und schloß die Tür, so heftig, daß Boldwinn sich mit einem Satz in Sicherheit bringen mußte, wollte er nicht die Klinke ins Kreuz bekommen. Mein Herz hämmerte. Für einen Moment drohte so etwas wie Panik meine Gedanken zu übermannen, während ich mich in dem großen, von behaglicher Wärme erfüllten Zimmer umsah. Alles wirkte glänzend und frisch und sauber, als wäre es mit großer Liebe eigens für mich hergerichtet worden.
Aber ich war doch nicht verrückt! Ich wußte doch, was ich gesehen hatte!
Mein Blick suchte den Spiegel über dem Kamin. Für einen Moment wünschte ich mir fast, das Zimmer darin in seinem alten, verwüsteten Zustand zu sehen, aber alles, was ich gewahrte, war mein eigenes Spiegelbild.
Ich erschrak, als ich mein eigenes Gesicht sah. In meinen Augen lag ein gehetzter, wilder Ausdruck, meine Wangen waren eingefallen, und meine Haut war bleich und von feinen, glitzernden Schweißperlen bedeckt. Mühsam riß ich mich von dem Anblick los, wandte mich um und ging zum Bett.
Meine Reisetasche stand, geöffnet, aber nicht ausgepackt, an seinem Fußende. Carradine mußte unser Gepäck bereits aus dem Wagen geholt und in die Zimmer gebracht haben. Erneut überlief mich ein eisiger Schauer, als ich an den schwachsinnigen, verkrüppelten Diener Boldwinns dachte. Unsere Situation kam mir mit jedem Augenblick unwirklicher vor: ein halb verfallenes Haus mitten im Wald, bewohnt von einem Exzentriker, der noch dazu einen verkrüppelten Diener hatte ... das Ganze hätte die perfekte Vorlage für einen zweitklassigen Gruselroman sein können - aber doch nicht die Wirklichkeit!
Ohne selbst so recht zu wissen warum, packte ich meine Tasche aus und nahm den Stockdegen, der auf ihrem Boden lag, hervor. Wahrscheinlich würde mich Boldwinn für total überdreht halten, wenn ich mit einem Gehstöckchen zum Abendessen erschien, aber das war mir mittlerweile vollends egal. Ich fühlte mich einfach wohler, mit einer Waffe in der Hand.
Auch wenn in mir eine Stimme war, die mir leise, aber sehr bestimmt zuflüsterte, daß mir die Waffe gegen die Gefahren, die in diesem Haus auf uns lauern mochten, herzlich wenig nutzen würde ...
Das Erwachen war wie ein mühsames, unendlich langsames Auftauchen aus einem lichtschluckenden, schwarzen Nichts; ein Sumpf aus finsterer Leere, der mit unsichtbaren, klebrigen Fingern nach ihrem Bewußtsein griff und sie immer wieder zurück in das große Vergessen zu zerren trachtete.
Stöhnend schlug sie die Augen auf.
Sie lag auf einer harten, kalten Unterlage. Ein eisiger Hauch kam von irgendwoher und ließ sie frösteln, und an ihrer linken Schulter war etwas Kleines, Weiches, das kitzelte und kribbelte.
Jenny stemmte sich mühsam auf die Ellbogen hoch, fuhr sich mit der linken Hand über die Augen und versuchte Einzelheiten von ihrer Umgebung zu erkennen. Aber alles, was sie sah, waren Schatten. Über ihrem Kopf schien ein Gewölbe zu sein; aber sie war sich nicht sicher. Die Luft roch feucht. Irgendwo tropfte Wasser.
Ein Keller, dachte sie. Vergeblich versuchte sie, sich zu erinnern, wo sie war und wie sie hierhergekommen war. Wo ihr Gedächtnis sein sollte, war nichts als eine gewaltige, beinahe schmerzhaft tiefe Leere.
Mühsam setzte sie sich ganz auf, starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und tastete mit den Händen um sich. Ihre Finger glitten über feuchten Stein und berührten etwas Kleines, Pelziges, das lautlos davonhuschte. Angeekelt zog Jenny die Hand zurück. Ihr Herz begann zu hämmern. Ihre überreizte Phantasie erfüllte die Dunkelheit rings um sie herum mit Ratten und Spinnen und körperlosen Alptraummonstern. Fast eine Minute lang saß sie stocksteif und starr vor Furcht da, ehe es ihr gelang, die Panik zurückzudrängen. Langsam beugte sie sich vor, erhob sich auf die Knie und streckte die Hand aus.
Neben ihr lag etwas Großes, Langgestrecktes, Dunkles. Das schwache graue Licht, das aus keiner bestimmten Quelle kam, reichte nicht aus, um mehr zu erkennen, aber in Jenny stieg eine bange Ahnung auf. Ihre Finger berührten Stoff, tasteten zitternd weiter und berührten glatte, eiskalte Haut.
Charles!
Plötzlich, mit schmerzhafter Wucht, kam ihre Erinnerung zurück. Jenny schrie auf, sprang mit einem Satz auf die Füße und prallte zurück. Sie hatte Charles' Gesicht nur den Bruchteil einer Sekunde berührt, aber selbst diese kurze Zeitspanne hatte gereicht, ihr zu sagen, daß er tot war.
Tot! hämmerten ihre Gedanken. Tot! Tot! Tot!
Ein Schrei stieg in ihrer Kehle hoch und wurde zu einem würgenden Keuchen. Plötzlich erinnerte sie sich an alles, an ihre gemeinsame Flucht, an ihr Vorhaben, nach Gretna Green zu gehen, das verlassene Haus im Wald, die Türen, die sich plötzlich geöffnet hatten, die -
- die Spinnen!
Jenny fuhr mit einem Schrei herum, rannte los und prallte im Dunkeln gegen eine Wand. Ihre Stirn schrammte über harten Stein. Der dumpfe Schmerz ließ sie aufschreien, riß sie aber gleichzeitig in die Wirklichkeit zurück. Sie blieb stehen, zwang sich, fünf-, sechsmal hintereinander tief durchzuatmen, und kämpfte die Panik ein zweites Mal nieder. Die Spinnen waren über sie und Charles hergefallen und hatten irgend etwas mit ihnen gemacht, etwas mit ihren Gedanken, aber auch mit ihren Körpern, was sie sich nicht erklären konnte und auch nicht wollte. Sie war nicht bewußtlos geworden, aber alles, was zwischen diesem Zeitpunkt und dem ihres Erwachens geschehen war, schien wie hinter einem Schleier verborgen zu sein, unwirklich wie ein Traum, obwohl sie genau wußte, daß es keiner gewesen war.
Jenny vermied es krampfhaft, an den reglosen Körper auf dem Boden hinter sich zu denken. Sie glaubte sich zu erinnern, ihren und Charles' Vater gesehen zu haben, später, nachdem die Spinnen gekommen waren, aber sie verdrängte auch diesen Gedanken und zwang sich, an nichts anderes zu denken als daran, wie sie hier heraus kam. Aus irgendeinem Grund hatten die Spinnen sie freigegeben, das allein zählte. Wenn sie nicht versuchte, an irgend etwas anderes zu denken, würde sie den Verstand verlieren, das wußte sie.
Zitternd hob sie die Arme, streckte die Hände aus und bewegte sie tastend wie eine Blinde vorwärts. Ihre Schritte erzeugten seltsame, klackende Echos auf dem feuchten Steinboden, und der Modergeruch schien stärker zu werden, je tiefer sie sich in das Gewölbe hineinbewegte. Sie fühlte Stein, legte die Handfläche dagegen und tastete sich Schritt für Schritt an der Wand entlang. Zu Anfang versuchte sie noch, ihre Schritte zu zählen, aber der Keller war sehr groß, und ihre Gedanken waren zu sehr in Aufruhr, als daß sie sich längere Zeit konzentrieren konnte.
Irgendwann stieß ihre Hand ins Leere, und vor ihrem tastenden Fuß war die unterste Stufe einer Treppe. Jenny zögerte, blickte noch einmal aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinter sich, dann wandte sie sich um und begann vorsichtig die unsichtbaren Stufen hinaufzusteigen.
Nach einer Weile sah sie Licht. Es war nur ein dünner, haarfeiner Streifen bleiches Licht, das unter einer Tür hindurchschien, aber es war Tageslicht.
Jenny ging schneller und rannte die letzten Stufen schließlich, gehetzt von den körperlosen Schrecken ihres eigenen Unterbewußtseins. Ihr Herz jagte, und ihr ganzer Körper war mit eisigem, klebrigem Schweiß bedeckt, als sie die Tür erreichte.