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Sie war verschlossen.

Jenny schrie vor Schrecken und Enttäuschung auf, hämmerte wie wild mit den Fäusten gegen die Tür und taumelte zurück. Panik verwirrte ihre Gedanken. Sie fuhr herum, verlor auf dem schlüpfrigen Stein der Stufen fast das Gleichgewicht und hielt sich im letzten Augenblick an der Wand fest. Geräusche stiegen aus der Tiefe zu ihr empor. Sie glaubte das Schleifen von Schritten zu hören, das Trippeln winziger, pelziger Beinchen ... schwarzer, mit drahtigem, dünnem Haar besetzter Beinchen ... Spinnenbeine ... Hunderttausende von Spinnenbeinen, die lautlos zu ihr hinaufkrochen ... wie eine schwarze, kribbemde Woge die Stufen emporfluteten ... langsam ... langsam, aber unaufhaltsam ...

Dann hörte sie die Schritte.

Es waren schwere, schlurfende Schritte, als schleppe sich jemand mit letzter Kraft über den steinernen Boden. Ein schwarzer, irgendwie verzerrt wirkender Schatten erschien am unteren Ende der Treppe, blieb stehen und hob mühsam den Kopf.

Jennys Herz krampfte sich zusammen, als sie das Gesicht erkannte. Es war zerstört, von schwärenden Wunden durchsetzt, die Augen leere, schwarze Höhlen, der Mund eine zerfranste Wunde - aber sie erkannte es.

Es war Charles' Gesicht...

Das Grauen lähmte sie. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie auf die nur schattenhaft erkennbare Gestalt herab, sah, wie Charles langsam, als koste ihn die Bewegung unendliche Mühe, die Arme hob und die Hände zu ihr emporreckte. Ein furchtbarer, gurgelnder Laut drang aus seinem Mund.

»Jenny ...«, flüsterte er. »Verlaß mich nicht. Komm zurück, Jenny!«

Ein gellender Schrei kam über Jennys Lippen. Sie fuhr herum, schlug noch einmal mit den Fäusten gegen die Tür und warf sich mit aller Macht gegen das morsche Holz.

Die Tür zerbrach. Jenny stolperte, fiel zusammen mit den Resten der zerborstenen Tür nach vorne und schlug schwer auf Händen und Knien auf.

Sie war im Freien!

Ein warmer, unangenehm schwüler Wind umschmeichelte sie, und über ihr spannte sich ein sonderbarer, unnatürlich blauer Himmel, in dessen Zentrum eine grellweiße, übergroße Sonne wie ein blendendes böses Auge loderte. Sie achtete nicht darauf, stemmte sich hoch und taumelte vorwärts, nur erfüllt von dem einen Wunsch, wegzukommen, fort, fort von diesem Haus des Wahnsinns, nur fort, fort, fort ...

Sie lief los, taumelte den gewundenen Kiesweg hinab und warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück. Das Haus ragte wie ein schwarzer Moloch hinter ihr in den Himmel, ein dunkles Ding, zusammengeballt aus Schwärze und Furcht. Die Tür, die sie aufgebrochen hatte, klaffte wie eine schwarze Wunde in seiner Flanke. Und sie spürte, wie irgend etwas aus dieser Öffnung hervorquoll, wie sich tief im Leib des Hauses etwas regte, etwas Großes und Körperloses und unglaublich Böses; etwas, das spürte, daß ihm eines seiner Opfer entkommen war, und das sich nun anschickte, es zurückzuholen ...

»Jenny!« hörte sie Charles' Stimme. »Komm zurück! Du darfst nicht gehen. Verlaß mich nicht!«

Jenny schrie erneut und lief noch schneller. Sie fiel, rollte sieben, acht, zehn Yards weit den abschüssigen Weg hinunter und sprang wieder auf die Füße. Ihre Hände und Knie bluteten, aber das spürte sie noch nicht einmal. Das rostige Tor und der Waldrand waren vor ihr, vielleicht noch fünfzig Schritte entfernt und doch unendlich weit.

Etwas an diesem Wald war seltsam. Es war dunkel gewesen, als Charles und sie hierhergekommen waren, so daß sie von ihrer Umgebung nicht mehr als schwarze Schatten wahrgenommen hatte - aber sie war sicher, daß es nicht mehr der selbe Wald war. Die Bäume waren größer, massiger und sahen eigentlich gar nicht wie normale Bäume aus. Und das Unterholz war viel dichter, als sie es in Erinnerung hatte. Genaugenommen hatte sie ein Unterholz wie dieses noch nie zuvor gesehen. Trotzdem lief sie weiter, noch immer gehetzt von unbeschreiblicher Furcht und grauer Panik.

Sie schaffte es beinahe.

Das unsichtbare Ding aus dem Haus holte sie ein, kurz bevor sie das Tor erreicht hatte. Jenny hatte plötzlich das Gefühl, von einer Welle tödlicher Kälte überrollt und gelähmt zu werden. Sie schrie, taumelte gegen das Gittertor und versuchte weiterzulaufen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Etwas griff nach ihrer Seele und ließ sie erstarren.

Als sie sich herumdrehte, stand Charles hinter ihr. Ein grausiges Lächeln verzerrte sein zerstörtes Gesicht.

»Jenny«, flüsterte er. »Komm zurück zu mir. Du darfst mich nicht verlassen.« Langsam hob er die Hand.

Für einen winzigen Moment wehrte sich noch etwas in Jenny, aber der Widerstand erlosch sofort. Sie lächelte. Langsam trat sie auf Charles zu, ergriff seine Hand und ließ sich zum Haus zurückführen.

Ich blieb nicht länger als unumgänglich notwendig in meinem Zimmer, und als ich es verließ, hatte ich das Gefühl, einer Gruft zu entsteigen. Ich spürte erst auf der Treppe, wie schwer es mir gefallen war, dort oben überhaupt zu atmen.

Howard und Rowlf waren bereits wieder in der Bibliothek, als ich den Raum betrat. Von Boldwinn war keine Spur zu sehen, aber auf dem Tisch stand jetzt neben dem Besteck eine Anzahl silberner Schüsseln und Schalen, in denen gekochte Kartoffeln und gedünstetes Gemüse dampften. Wenn Boldwinn das unter einem kleinen Imbiß verstand, dann wollte ich gar nicht wissen, was er auffahren ließ, wenn er wirklich hungrig war.

Ich setzte mich. Rowlf hatte bereits an der gegenüberliegenden Seite der Tafel Platz genommen und sich ohne viel Federlesens Gemüse und Salzkartoffeln auf seinen Teller gehäuft, während Howard - was auch sonst? - vor einem Bücherregal stand und mit zitternden Fingern über die Bände tastete. Keiner von ihnen verlor auch nur ein Wort über den Zwischenfall von vorhin, aber ich spürte, daß die Spannung, die schon die ganze Zeit über wie ein übler Geruch in der Atmosphäre gehangen hatte, stärker geworden war.

Der Anblick der Speisen weckte meinen Appetit. Ich hatte außer einem kleinen Imbiß im Zug den ganzen Tag über nichts zu mir genommen, und mein Magen knurrte hörbar. Rowlf grinste und stopfte sich eine ungeheuerliche Ladung Kartoffeln und zerquetschtes Gemüse in den Mund. Für einen Moment beneidete ich ihn um den Gleichmut, mit dem er sich über alle Konventionen hinwegsetzte und tat, wonach ihm zumute war.

Das Geräusch der Tür ließ mich aufsehen. Boldwinn und Carradine kamen zurück; Boldwinn mit einer verstaubten Weinflasche und einem Korkenzieher in der Hand, Carradine einen niedrigen Servierwagen vor sich her schiebend. Zwischen Boldwinns Brauen entstand eine tiefe Falte, als er sah, daß Rowlf bereits mit der Mahlzeit begonnen hatte, aber er verbiß sich die Bemerkung, die ihm zweifellos auf der Zunge lag. Ein leises Gefühl von Schadenfreude stieg in mir hoch. Wahrscheinlich waren wir die unmöglichsten Gäste, die er jemals gehabt hatte - aber er war auch der mit Abstand sonderbarste Gastgeber, dem ich je begegnet war.

Carradine begann seinen Servierwagen zu entladen und weitere Schüsseln und Bleche auf den Tisch zu häufen. Boldwinn sah ihm eine Weile schweigend dabei zu, scheuchte ihn dann mit einer Handbewegung aus dem Zimmer und setzte sich. Auch Howard riß sich endlich von den Büchern los und nahm Platz.

Wir aßen schweigend. Nach allem, was passiert war, überraschte mich das Essen doch - das Fleisch schmeckte sonderbar, aber äußerst gut, und nachdem die ersten Bissen meinen Hunger richtig geweckt hatten, griff ich herzhaft zu und nahm gleich zweimal nach.

Howard bedankte sich nach dem Essen und wollte aufstehen, um sich zurückzuziehen, aber Boldwinn bedeutete ihm mit einer knappen Geste, sitzenzubleiben, nahm einen flachen Silberkasten vom Servierwagen und klappte ihn auf. Howard blinzelte einen Moment irritiert auf die säuberlich aufgereihten Zigarren, die darin lagen, zögerte unentschlossen und griff dann doch zu. Boldwinn stand auf, kam mit einem glimmenden Span aus dem Kamin zurück und gab ihm Feuer.