»Ich hasse Gewalt, Mister Boldwinn«, sagte er ernst. »Aber Sie lassen mir keine andere Wahl.«
Boldwinn lachte meckernd. »So?« sagte er. »Und was wollen Sie tun? Mich vielleicht umbringen?«
»Vielleicht die Tür einschlag'n«, sinnierte Rowlf. »Mit deim' Schädel.«
Boldwinn drehte sich herum, sah Rowlf mit einer Mischung aus Abscheu und Verachtung an und lächelte böse. »Aber Sie können mich nicht umbringen«, sagte er dann, wieder an Howard gewandt. Sein Gesicht begann sich zu verändern. »Selbst wenn Sie wollten.« Seine Haut fiel ein, wurde grau und rissig und spannte sich plötzlich wie trockenes Pergament über den Knochen. »Ich bin nämlich schon tot, müssen Sie wissen.« Die Veränderung ging weiter, schnell, unglaublich schnell. Er taumelte. Seine Beine schienen nicht mehr die Kraft zu haben, seinen Körper zu tragen. Er sackte gegen den Tisch, klammerte sich vergeblich fest und sank weiter zu Boden. Sein Körper sah plötzlich aus wie ein schlaffer Sack ohne stützende Knochen. Seine Kleider sanken ein, als wäre der Leib darunter plötzlich nicht mehr da.
Der ganze schreckliche Vorgang dauerte nur wenige Augenblicke, Dann lagen da, wo Boldwinn zu Boden gestürzt war, nur noch ein Haufen alter Kleider und grauer, trockener Staub.
Der Raum lag tief unter der Erde. Seine Wände waren fensterlos, und die Tür bestand aus schweren, eisenbeschlagenen Bohlen, die nicht den geringsten Lichtschimmer, nicht den mindesten Laut hindurchließen. Jenny erinnerte sich nur schemenhaft daran, wie sie hier heruntergekommen war: Charles hatte sie zurückgeführt ins Haus, zurück in den Keller, in dem sie das erste Mal erwacht war, tiefer hinein in das unterirdische Labyrinth von Gängen und Stollen und Katakomben, das sich unter dem Haus erstreckte. Sie waren über ein Dutzend Treppen und zahllose, ausgetretene Stufen tiefer und immer tiefer hinabgegangen, weiter durch Stollen und Tunnel, später durch Gräben, die sie an ins Riesenhafte vergrößerte Maulwurfsgänge erinnerten und deren Wände nur noch aus zusammengepreßtem Erdreich bestanden, später durch bizarre, einer dem menschlichen Begriffsvermögen nicht völlig zugänglichen Geometrie folgenden Tunnel, die direkt durch den harten Granit des Bodens gegraben worden waren. Jetzt war sie hier.
Charles war gegangen, und mit ihm war die geistige Fessel von ihr abgefallen. Nicht vollkommen - sie spürte, daß die unsichtbare Macht noch irgendwo da war, sie belauerte, bereit, sofort wieder zuzuschlagen, sollte sie erneut einen Fluchtversuch unternehmen.
Jenny hatte Angst. Nicht das, was sie bisher unter dem Wort Angst verstanden hatte, sondern ein völlig neues, unbeschreibliches Gefühl des Grauens, das jeden Ansatz vernünftigen Denkens hinwegfegte und ihren Willen lähmte. Selbst wenn die Tür nicht verschlossen gewesen wäre, wäre sie unfähig gewesen, sich von der Stelle zu rühren.
Sie war allein in der gewölbten Kammer, und doch nicht allein. Es gab kein Licht, aber sie konnte auf geheimnisvolle Weise trotzdem sehen, und obwohl es vollkommen still war, hörte sie unheimliche, schleifende, rasselnde Geräusche.
Ein Laut, dachte sie erschrocken, wie ein schwerfälliges, unendlich mühsames Atmen. Es war niemand da, den sie atmen hören konnte, aber das Geräusch war trotzdem real, und es wurde in jedem Augenblick lauter, deutlicher, drohender ... Es kam aus keiner bestimmten Richtung, sondern schien aus Wänden und Decke, aus Boden und den Ritzen des Mauerwerks selbst zu kommen. Fast, als atmete das Haus selbst...
Jenny versuchte den Gedanken zu verscheuchen, aber es ging nicht, er hatte sich, einmal geweckt, wie der Keim einer üblen Krankheit in ihr Bewußtsein eingenistet und vergiftete ihr Denken. Vibrierte nicht der Boden unter ihren Füßen ein ganz kleines bißchen? Waren die Wände nicht in beständiger, unendlich langsamer, aber trotzdem sichtbarer Bewegung? Pulsierte nicht der ganze Raum wie ein gewaltiges, mühevoll schlagendes Herz?
Jenny spürte, wie der Wahnsinn nach ihren Gedanken griff. Sie stöhnte, krümmte sich wie ein verängstigtes Kind in einer Ecke zusammen und schlug die Hände vor das Gesicht; preßte die Augen so heftig zu, daß es schmerzte. Aber es half nicht. Das Atemgeräusch wurde lauter, und darunter glaubte sie ein dumpfes, regelmäßiges Pochen zu hören. Gleichzeitig wurde es wärmer.
Ein helles Knirschen drang in Jennys Gedanken. Zitternd vor Furcht nahm sie die Hände herunter, raffte das bißchen Mut, das sie in einem Winkel ihrer Seele noch fand, zusammen, und zwang sich, in die Richtung zu blicken, aus der das Geräusch kam.
Es war die Tür.
Das massive, armdicke Eichenholz begann sich zu biegen, als laste ein ungeheurer Druck auf ihm. Die Tür krachte und ächzte, armlange Splitter traten knallend aus dem Holz, dann wurde einer der Eisenbeschläge von einer ungeheuren Gewalt abgerissen und zu Boden geschleudert. Das Türblatt riß von oben bis unten; ein handbreiter Spalt entstand, und dahinter ...
Jennys Schreien steigerte sich zu einem irrsinnigen Kreischen, als ihr Blick durch das zerborstene Türblatt fiel ...
»Dat hat kein' Zweck nich«, brummte Rowlf. »Glaubense mir.«
Howard richtete sich mit einem resignierenden Seufzen auf, betrachtete einen Moment lang mißmutig das abgebrochene Messer in seiner Hand - es war das dritte, das er bei dem Versuch, das Schloß zu öffnen, zerbrochen hatte - und trat achselzuckend zurück, »Mach Platz, Robert.«
Ich gehorchte. Rowlf grunzte, trat drei, vier Schritte zurück und konzentrierte sich einen Moment. Dann rannte er los, drehte sich im letzten Moment zur Seite und rammte die Tür mit seiner gesamten ungeheuren Körperkraft. Die Tür bebte, als wäre sie von einer Kanonenkugel getroffen worden. Staub und feiner, weißer Kalk rieselten aus dem Rahmen, und einer der bronzierten Beschläge löste sich und fiel klappernd zu Boden.
Aber sie ging nicht auf.
Rowlf war zurückgetaumelt und hatte mit rudernden Armen sein Gleichgewicht wiedergefunden. Sein Gesicht zuckte, während er seine geprellte Schulter massierte, und in seinen Augen lag ein ungläubiger Ausdruck.
»Dat gibtet nich«, murmelte er. »Ich werd doch noch sone blöde Tür ...« Er knurrte, trat wieder zurück und machte Anstalten, ein zweites Mal gegen die Tür anzurennen, aber Howard hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.
»Laß es bleiben, Rowlf«, sagte er. »Er hat keinen Sinn. Die Tür ist magisch verriegelt.« Er seufzte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war undeutbar. »Ich bin ein Narr gewesen, Robert«, murmelte er. »Dieses Haus ist eine einzige riesige Falle. Ich hätte es erkennen müssen.«
Ich antwortete nicht. Mein Blick tastete über den Haufen vermoderter Kleider und grauen Staubes; alles, was von Boldwinn übrig geblieben war. Ein eisiger Schauer lief über meinen Rücken. Aber ich bin doch schon tot, hatte er gesagt. Es war mir unmöglich, den eisigen Schrecken zu verjagen, mit dem mich diese Worte erfüllt hatten.
»Du kannst nichts dafür«, murmelte ich, nicht aus Überzeugung, sondern nur, um überhaupt etwas zu sagen und das tödliche Schweigen, das sich im Raum ausgebreitet hatte, nicht übermächtig werden zu lassen.
Howard lachte humorlos. »Doch«, widersprach er. »Ich hätte ihn erkennen müssen. Spätestens in dem Moment, in dem ...« Er sprach nicht weiter, sondern ballte in hilflosem Zorn die Fäuste, fuhr mit einer plötzlichen, abrupten Bewegung herum und ging zu einem der Fenster. Wir wußten beide, wie sinnlos es war. Die Fenster zu öffnen, war das erste gewesen, was wir versucht hatten, als sich die Tür nicht öffnen ließ. Die Flügel saßen so unverrückbar an ihrem Platz, als wären sie verschweißt, und das Glas hatte jedem Versuch widerstanden, es einzuschlagen. Howard rüttelte einen Moment am Griff, wandte sich mit einem resignierenden Seufzer wieder um und ging zum Tisch.
»Ich versuch's noch mal«, knurrte Rowlf. »Wär ja gelacht, wenn ich nich ...«
»Das ist vollkommen sinnlos«, unterbrach ihn Howard. »Nicht einmal ein Elefant könnte diese Tür einrammen. Aber wir kommen schon hier heraus.« Der letzte Satz war eher ein Ausdruck seiner Verzweiflung als echter Überzeugung. »Irgend etwas wird geschehen«, murmelte er. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie sich damit zufrieden geben, uns hier drinnen einzusperren und zu warten, bis wir an Altersschwäche sterben.«