Ich gehorchte.
Fast eine Minute lang saß ich da, starr vor Schrecken und zu nichts anderem fähig, als mein eigenes Spiegelbild anzustarren. Mein Gesicht wirkte eingefallen und müde. Auf meiner Wange war ein neuer, blutiger Kratzer, und darüber ...
Die Klaue des GROSSEN ALTEN hatte eine tiefe, bis auf den Knochen reichende Wunde in meine Stirn gerissen, ein Schnitt, der von der Augenbraue bis zum Haaransatz reichte.
Und dort, wo er endete, war eine fünf Zentimeter breite Strähne meines Haares schloßweiß geworden. Eine Strähne, die wie ein gezackter Blitz geformt war und bis zum Scheitel emporreichte ...
Schließlich, nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, brach Howard das Schweigen. »Du hast mich niemals gefragt, wie dein Vater an seine Verletzung gekommen ist, Robert«, sagte er. »Ich hätte es dir sagen können.«
Mühsam löste ich den Blick vom Spiegel. Ich wußte die Antwort, aber plötzlich hatte ich Angst, sie laut zu hören. »Er hat...«
»Das gleiche getan wie du«, sagte Howard. »Du hast uns alle gerettet, Junge«, murmelte er. »Aber ich will dir nichts vormachen. Früher oder später würdest du es sowieso erfahren. Du hast einen der GROSSEN ALTEN getötet, genau wie dein Vater. Und du weißt, was das bedeutet.«
Ich wußte es.
Natürlich wußte ich es. Ich hatte es gewußt, im gleichen Moment, in dem ich mein Spiegelbild sah, die Strähne schlohweißen Haares, die mich endgültig zum Erben und Nachfolger meines Vaters machte, auch nach außen hin.
Er und ich, wir beide hatten einen der schrecklichen Dämonen aus der Vorzeit der Erde getötet. Und er und ich hatten das gleiche Schicksal. Seines hatte sich erfüllt, und das meine würde sich erfüllen. Irgendwann.
Ich hatte einen GROSSEN ALTEN getötet, und ich wußte, was das bedeutete. Sie würden mich jagen. Sie würden mich mit ihrer Rache verfolgen, bis ans Ende der Welt, wenn es sein mußte.
Und darüber hinaus.
Fünftes Buch - Im Schatten der Bestie
Wie oft nach einem schweren Sturm lag das Meer ruhig und schon fast unnatürlich glatt da. Es war still, und selbst das Geräusch des Windes, der die ganze Nacht lang um die Kanten und Grate der turmhohen Steilküste geheult und die Wellen in weißer Gischt an ihrem Fuß hatte zerbersten lassen, war verstummt, als die Sonne aufgegangen war. Der einzige Laut, der die Stille durchbrach, waren die Schritte der drei Männer, die sich vorsichtig dem Rand der grauweiß marmorierten Wand näherten und in die Tiefe blickten.
Das gigantische graue Etwas, das sich lautlos der Küste genähert hatte und lauernd zwischen den Riffen lag, bemerkte keiner von ihnen.
Bensens Hände waren blutig und schmerzten, als er den Strand erreichte. Der Abstieg war nicht sehr gefährlich gewesen. Bensen war an der Steilküste aufgewachsen und schon als Kind in den Wänden herumgeklettert, und der Fels fiel an dieser Stelle nicht so glatt und lotrecht in die Tiefe wie andernorts, so daß selbst ein weniger geübter Kletterer die fünfzig oder sechzig Fuß leicht hätte bewältigen können. Aber die scharfen Kanten und Grate der Kreidefelsen hatten seine Haut aufgerissen, und das Salz, das der Sturm wie einen glitzernden Panzer auf dem Felsen zurückgelassen hatte, brannte höllisch in den Wunden.
Bensen klaubte sein Taschentuch hervor und wischte sich das Blut von den Fingern, während er darauf wartete, daß die beiden anderen ihm folgten. Norris kletterte geschickt und zügig über ihm den Felsen herab, während Mahoney noch immer grimassenschneidend - und vor Angst zitternd - auf einem schmalen Felsvorsprung stand und sich offensichtlich nicht entscheiden konnte, ob er sich nun vor Angst in die Hosen machen oder einfach umkehren sollte. Das letzte Stück der Wand war das Schwierigste.
»Worauf wartest du, Floyd?« rief Bensen. »Der Fels wird sich deinetwegen kaum in eine Treppe verwandeln. Komm schon!«
»Ich ... verdammt, ich kann das nicht!« rief Mahoney zurück. »Ich bin nicht schwindelfrei, das weißt du doch. Ich kann da nicht runtersteigen.«
»Dann spring von mir aus!« brüllte Bensen. »Ist doch nicht hoch. Und unten ist weicher Sand!«
»Springen?« Mahoney keuchte, und Bensen konnte selbst über die große Entfernung hinweg sehen, wie er noch blasser wurde, als er ohnehin schon war. »Bist du verrückt geworden? Das sind zwanzig Fuß!«
Bensen grinste, trat einen Schritt von der Wand zurück, um Norris Platz zu machen, und drehte sich achselzuckend um. Wäre es nach ihm gegangen, dann wäre Mahoney gar nicht erst mitgekommen. Aber Norris hatte darauf bestanden, ihn mitzunehmen, und vermutlich hatte er recht. Floyd Mahoney war vielleicht der größte Feigling, den es im Umkreis von hundert Meilen gab - aber er war auch der beste Taucher in Durness. Sie brauchten ihn. Vielleicht.
Norris landete mit einem federnden Satz neben ihm im Sand, richtete sich auf und betrachtete einen Moment lang stirnrunzelnd seine Hände, die genauso zerschunden und blutig waren wie die Bensens. Dann drehte er sich um und blickte auf das Meer hinaus. Die Windstille hielt weiter an, und die Ebbe hatte den Wasserspiegel sinken lassen, so daß der Strand jetzt breiter war, dreißig, vielleicht vierzig Fuß feuchtglänzender weißer Sand, wo während der Nacht weiße Gischt gekocht hatte. Zwischen Norris' Brauen entstand eine tiefe Falte, die ihn älter und ernster aussehen ließ, als er war. »Nichts zu sehen«, murmelte er.
Bensen kramte eine Zigarette aus der Tasche und riß mit klammen Fingern ein Streichholz an, ehe er antwortete. »War es deine Idee oder meine, hierher zu kommen?«
Die Falte zwischen Norris' Brauen vertiefte sich. »Verdammt, ich weiß schließlich, was ich gesehen habe«, sagte er unwillig. »Es ist hier.«
Bensen nahm einen tiefen Zug, hustete ein paarmal und schnippte die Zigarette mit einem Fluch in die Brandung. Der Rauch schmeckte bitter, und sein Atem ging noch immer keuchend und mühsam. Die kurze Kletterpartie hatte ihn doch mehr angestrengt, als er bisher gemerkt hatte. Norris verfolgte sein Tun mit gerunzelter Stirn, hütete sich aber, etwas zu sagen. Schweigend warteten sie, bis Mahoney mühsam und umständlich zu ihnen heruntergeklettert kam und sich zu ihnen gesellte. Sein Gesicht war bleich, und trotz der Kälte glitzerte feiner Schweiß auf seiner Stirn.
»Hat einer von euch eine Idee, wie wir wieder raufkommen?« fragte er leise.
Bensen grinste. »So, wie wir runtergekommen sind, Floyd. Klettern.«
Mahoney wurde noch blasser, verbiß sich aber vorsichtshalber jede Antwort und blickte an Bensen und Norris vorbei auf die See hinaus. Die Wellen waren flach und kraftlos geworden, und selbst das Geräusch der Brandung war nur noch ein leises Murmeln, als hätte der Ozean seine ganze Kraft verbraucht.
»Ich sehe kein Schiff«, sagte er nach einer Weile.
»Es ist aber da«, antwortete Norris. Seine Stimme klang beinahe trotzig. »Ich hab's ganz deutlich gesehen. Muß ein Drei- oder Viermaster gewesen sein. Er war in der Mitte durchgebrochen, aber man konnte ...«
Bensen verdrehte die Augen und unterbrach ihn mit einer unwilligen Handbewegung. »Ist ja schon gut, Kleiner«, sagte er. »Wir glauben es dir. Außerdem«, fügte er nach sekundenlangem Überlegen und mit veränderter Stimme hinzu, »ist es ziemlich genau die Stelle, die mir dieser Verrückte beschrieben hat.« Er seufzte. »Fangen wir an.«
Norris löste schweigend die Schnallen seines Rucksackes und half Bensen, auch seine Last abzusetzen. Nur Mahoney rührte sich nicht.
»Was ist?« knurrte Bensen unwillig. »Keine Lust?«
»Nicht die geringste«, antwortete Mahoney kopfschüttelnd. »Die Sache gefällt mir nicht, Lennard.« Er schürzte die Lippen, streifte nun doch den Rucksack von seinem Rücken und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Meer hinaus. »Die See, ist zu ruhig. Und es ist verdammt kalt.«