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»Du hast mir nicht alles gesagt«, sagte ich.

Howard ließ langsam seine Zeitung sinken, sah mich an und lächelte müde. Er wirkte erschöpft. Unter seinen Augen lagen tiefe, schwarz unterlaufene Ringe, und seine Finger zitterten fast unmerklich, als er die Zeitung zusammenfaltete. Im Gegensatz zu mir hatte er in der vergangenen Nacht kein Auge zugemacht. Rowlf und er wechselten sich darin ab, an meinem Bett Wache zu halten, und in dieser Nacht war er an der Reihe gewesen.

Er gähnte, warf die Zeitung achtlos neben sich auf den Boden, stand auf und trat an den Kamin, um die Hände über die prasselnden Flammen zu halten. Er zitterte. Die Novemberkälte war ins Zimmer gekrochen, während das Fenster offengestanden hatte. Ich spürte sie empfindlich durch das dünne Nachthemd hindurch. Für Howard, übermüdet und erschöpft, wie er war, mußte sie doppelt unangenehm sein. Aber er machte keine Anstalten, mir zu antworten.

»Also?« fragte ich ungeduldig. Meine Stimme zitterte ein wenig, aber ich war mir selbst nicht ganz sicher, ob es nun an der Kälte oder dem Zorn lag, den ich verspürte. Es war beileibe nicht das erste Mal, daß ich Howard - oder auch Rowlf, je nachdem, wer von beiden gerade greifbar war - diese Frage stellte. Und natürlich würde er mir entweder gar nicht oder mit den üblichen Ausflüchten antworten.

»Was - also?« fragte Howard. Er seufzte, drehte sich herum und sah mich mit einer Mischung von Mitleid und Sorge an, die mich rasend machte. Seit wir in Durness angekommen waren und ich das erste Mal aus meinen Fieberphantasien aufgewacht war, sah er mich mit diesem Blick an. Einem Blick, mit dem man ein krankes Kind oder einen Sterbenden bedachte. Aber ich war weder das eine noch das andere.

Für einen Moment wurde mein Zorn übermächtig. Wütend hob ich die Hände, trat auf ihn zu und funkelte ihn an. »Spiel nicht den Dummen, Howard«, sagte ich. »Du weißt ganz genau, was ich meine. Seit wir aus London abgereist sind, weichst du mir aus oder tust so, als verstündest du mich nicht. Ich will endlich wissen, was hier gespielt wird.«

Howard seufzte. »Du bist immer noch krank, Junge«, sagte er. »Warum wartest du nicht ab, bis ...«

Ich brachte ihn mit einer wütenden Handbewegung zum Verstummen. »Hör auf, Howard«, sagte ich. »Ich bin kein dummes Kind, mit dem du so reden kannst. Seit einer Woche liege ich in diesem Bett und tue nichts, und du sitzt mit Leichenbittermiene neben mir und siehst mich an, als müßtest du bereits Maß für meinen Sarg nehmen.«

»Wenn es nur das wäre«, murmelte Howard. »Wenn nur unser Leben in Gefahr wäre, wäre ich halb so besorgt. Aber so ...« Er seufzte, ging an mir vorbei und ließ sich wieder in den Sessel fallen, in dem er die ganze Nacht gewacht hatte.

»Schon wieder eine Andeutung«, sagte ich. Aber der Zorn in meiner Stimme war nicht echt, und ich spürte, wie sich - wieder einmal - Resignation in mir breitmachte. Es war einfach unmöglich, sich mit Howard zu streiten, wenn er es nicht wollte. Einen Moment lang starrte ich ihn noch an, dann ging ich zu meinem Bett zurück und bückte mich nach meinen Kleidern. Eine Woche Untätigkeit war genug.

»Was tust du da?« fragte Howard. Seine Stimme klang nicht sehr interessiert, sondern eher gelangweilt.

»Ich ziehe mich an«, erwiderte ich wütend, während ich schon in meine Hose schlüpfte - wenigstens versuchte ich es. Aber kaum hatte ich mich gebückt, wurde mir schwindelig, und das nächste, woran ich mich erinnerte, war Howards Gesicht über mir und das harte Holz des Fußbodens unter meinem Hinterkopf.

»Na«, sagte er ruhig. »Überzeugt?«

Ich antwortete nicht. Es war nicht das erste Mal, daß ich einen Schwächeanfall wie diesen hatte. Seit meiner Begegnung mit dem GROSSEN ALTEN kamen sie regelmäßig, nicht ganz so häufig wie die Alpträume, aber genauso beharrlich. Und sie wurden schlimmer, nicht schwächer. Nicht sehr stark, aber unbarmherzig. Beim ersten Mal war es nur eine rasche, vorübergehende Übelkeit gewesen, begleitet von einem beinahe angenehmen Schwindelgefühl. Jetzt hatte ich für Sekunden das Bewußtsein verloren ...

»Howard«, murmelte ich. »Ich ...«

»Schon gut.« Howard lächelte, streckte die Hand aus und half mir, aufzustehen und mich wieder auf die Bettkante zu setzen. »Ich verstehe dich ja, Robert«, murmelte er, »Wenn ich du wäre, dann wäre ich wahrscheinlich genauso ungeduldig.« Plötzlich lächelte er. »Wahrscheinlich hätte ich es nicht einmal eine Woche ausgehalten. Aber du brauchst Ruhe. Deine Verletzung ist viel ernster, als du glaubst.«

Instinktiv tastete ich nach der Wunde an meiner Stirn. Der fingerlange Riß war längst verheilt, und alles, was zurückgeblieben war, war eine dünne, nur bei genauem Hinsehen überhaupt sichtbare, weiße Narbe. Und die weiße Haarsträhne. Ein Streifen schlohweißen Haares, gezackt wie ein Blitz, die über meiner rechten Braue begann und sich bis zum Scheitel hinaufzog, wie ein Stigma, ein Zeichen, mit dem ich für den Rest meines Lebens gebrandmarkt war.

»Du mußt dich schonen, Robert«, fuhr Howard fort. »Ich meine es ernst. Du hast etwas überlebt, was kein normaler Mensch überlebt hätte. Eigentlich reicht der bloße Anblick eines GROSSEN ALTEN, einen Menschen zu töten, oder zumindest in den Wahnsinn zu treiben. Dein Vater, Robert, lag damals ein halbes Jahr auf Leben und Tod.«

»Das ist es ja gerade, was ich meine«, antwortete ich düster. »Ich bin kein normaler Mensch, Howard. Ich will endlich wissen, was mit mir los ist. Wer ich bin.«

»Der Sohn deines Vaters«, antwortete Howard ruhig.

»Und wer war mein Vater? Außer Roderick Andara, dem Hexer?«

Diesmal antwortete Howard nicht sofort. »Ich ... erzähle dir alles«, sagte er, aber erst nach langem Schweigen und sehr zögernd. »Aber nicht jetzt, Robert. Nicht jetzt und nicht hier. Es ist eine lange Geschichte, und wir haben im Moment Wichtigeres zu tun. Wenn wir das Wrack gefunden und die Kiste geborgen haben -«

»Findest du bestimmt eine andere Ausrede«, fiel ich ihm ins Wort. Meine Attacke war unfair. Ich hatte keinen Grund, an Howards Aufrichtigkeit und Freundschaft zu zweifeln, aber nach einer Woche, die ich mit praktisch nichts anderem als Nachdenken und Fragen verbracht hatte - ohne jemals eine Antwort zu bekommen -, war mir das egal.

»Warum vertraust du mir nicht einfach, Robert?« fragte er leise. Sein Blick wirkte traurig. »Was muß ich noch tun, um dir zu beweisen, daß ich auf deiner Seite stehe?«

»Nichts«, sagte ich. »Du brauchst mir nichts zu beweisen, Howard, weil ich es weiß.«

»Dann hör auf, Fragen zu stellen«, sagte Howard ernst. »Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit reif ist.«

Ich starrte ihn an, hob die Hand und berührte die Narbe an meiner Stirn. »Es hat damit zu tun, nicht?« fragte ich leise. »Mit der Verletzung.«

Howard schwieg, aber seine Mundwinkel zuckten ganz leicht, und mit einemmal hielt er meinem Blick nicht mehr stand, sondern sah weg und begann nervös mit seinem silbernen Zigarrenetui zu spielen.

»Es war mehr als eine Fleischwunde, nicht wahr?« fuhr ich fort. »Der Riß ist längst verheilt, aber es geht mir immer noch nicht besser, und ...«

»Die Wunde war entzündet«, unterbrach mich Howard. »Es war alles voller Schmutz und Staub. Du hast doch selbst gehört, was der Arzt gesagt hat.«

Es war eine Ausrede. Der Arzt, zu dem mich Howard und Robert gebracht hatten, hatte genau das gesagt, was er sagen sollte, nicht mehr und nicht weniger, und man mußte nicht einmal wie ich über die Gabe verfügen, Wahrheit von Lüge unterscheiden zu können, um das zu spüren. Howard war kein besonders guter Schauspieler.

»Quatsch«, sagte ich leise.

»Du ...«

»Das ist Unsinn, Howard. Versuch' nicht, mir etwas vorzumachen. Irgend etwas ist mit mir passiert, als mich dieses ... dieses Ding berührt hat. Ich fühle mich von Tag zu Tag schlechter, und diese Schwächeanfälle werden jedesmal schlimmer, statt besser. Was ist los mit mir?« Ich schwieg einen Moment, setzte mich - diesmal weit vorsichtiger als beim ersten Mal - auf und sah ihn fest an. »Ich kann die Wahrheit vertragen, Howard«, sagte ich leise. »Dieses Biest hat mich nicht einfach nur niedergeschlagen. Irgend etwas ist mit mir geschehen, als es mich berührt hat. Was? War es ... eine Art Gift?«