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Das Telefon klingelte. Sie zögerte, dann hob sie es ab. »Ja, Boris.« Sie lauschte. »Ja, Boris. Ja, ich bin vernünftig — ja, ich weiß, daß viel mehr Menschen an Herzschlag und Krebs sterben — ich habe die Statistiken gelesen, Boris, ja — ich weiß, daß es uns nur so scheint, weil wir hier oben so eng zusammen hausen — ja, viele werden geheilt, ja, ja — die neuen Mittel, ja, Boris, ich bin vernünftig, bestimmt — nein, komm nicht — ja, ich liebe dich, Boris, natürlich —«

Sie legte den Hörer auf. »Vernünftig«, flüsterte sie und starrte in den Spiegel, aus dem ihr Gesicht zurückstarrte, fremd, mit fremden Augen — »vernünftig!« Mein Gott, dachte sie, ich bin viel zu lange vernünftig gewesen! Wozu? Um Nummer zwanzig oder dreißig in Zimmer sieben neben dem Gepäckaufzug zu werden? Etwas in einem schwarzen Kasten, vor dem einem graute?

Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Die Nacht lag dunkel und endlos vor ihr, voll mit Panik und Langeweile, dieser entsetzlichen Mischung, die das Kennzeichen der Sanatorien war — der Panik vor der Krankheit und der Langeweile des reglementierten Daseins, die zusammen unerträglich wurden, weil der Kontrast zu nichts anderem führte als zu einem intensiven Gefühl völliger Hilflosigkeit.

Lillian stand auf. Nur jetzt nicht alleinbleiben! Es mußten noch ein paar Leute unten sein — Hollmann zumindest und sein Besuch.

* * *

Im Speisezimmer saßen außer Hollman und Clerfayt noch drei Südamerikaner, zwei Männer und eine ziemlich dicke, kleine Frau. Alle drei waren schwarzgekleidet; alle drei schwiegen. Sie hockten wie kleine, schwarze Hügel in der Mitte des Raumes unter der hellen Lampe.

»Sie kommen aus Bogotб«, sagte Hollmann. »Man hat ihnen telegrafiert. Die Tochter des Mannes mit der Hornbrille lag im Sterben. Aber seit sie hier sind, geht es dem Mädchen plötzlich besser. Jetzt wissen sie nicht, was sie tun sollen — zurückfliegen oder hier bleiben.«

»Warum bleibt die Mutter nicht hier, und die andern fliegen zurück?«

»Die dicke Frau ist nicht die Mutter. Sie ist die Stiefmutter; sie hat das Geld, von dem Manuela hier lebt. Keiner will eigentlich hier bleiben; auch nicht der Vater. Sie hatten drüben Manuela fast vergessen. Sie schickten regelmäßig den Scheck und lebten in Bogotб, und Manuela lebte hier — seit fünf Jahren — und schrieb monatlich einen Brief. Der Vater und die Stiefmutter haben längst Kinder, die Manuela nicht kennt. Alles war gut — bis sie so lästig wurde zu sterben. Da mußte man natürlich kommen, der Reputation wegen. Die Frau wollte den Mann nicht allein fliegen lassen. Sie ist älter als er und eifersüchtig, und sie weiß, daß sie zu dick ist. Zur Verstärkung nahm sie deshalb ihren Bruder mit. Man hatte in Bogotб ohnehin schon darüber geredet, daß sie Manuela aus dem Hause gedrängt habe; jetzt will sie zeigen, daß sie sie liebt. Es ist also nicht nur eine Sache der Eifersucht, sondern auch eine des Prestiges. Wenn sie allein zurückflöge, würde das Gerede wieder beginnen. So sitzen sie da und warten.«

»Und Manuela?«

»Der Vater und die Stiefmutter liebten sie heiß, als sie ankamen, weil sie ja jede Stunde sterben sollte. Die arme Manuela, die nie Liebe gekannt hatte, war dadurch so beglückt, daß sie begann sich zu erholen. Jetzt sind die Eltern bereits ungeduldig. Außerdem werden sie jeden Tag dicker, weil sie nervösen Hunger haben und sich mit dem berühmten Konfekt des Ortes voll stopfen. In einer Woche werden sie Manuela hassen, weil sie nicht schnell genug stirbt.«

»Oder sie werden sich an das Dorf gewöhnen, das Konfektgeschäft kaufen und sich hier niederlassen«, sagte Clerfayt.

Hollmann lachte. »Du hast eine makabre Fantasie.«

»Im Gegenteil. Nur makabre Erfahrungen. Aber woher weißt du all das?«

»Ich habe dir doch schon gesagt, daß es hier keine Geheimnisse gibt. Schwester Cornelia Wehrli spricht Spanisch und ist die Vertraute der Stiefmutter.«

Die drei schwarzen Gestalten standen auf. Sie hatten kein Wort miteinander gesprochen. Mit feierlicher Würde schritten sie hintereinander zur Tür.

Sie stießen fast mit Lillian Dunkerque zusammen, die so rasch hereinkam, daß die dicke Frau erschrak und mit einem hohen Vogelschrei zur Seite wich. Lillian ging eilig an den Tisch zu Hollmann und Clerfayt und sah sich dann nach der Frau um. »Was schreit sie denn?« flüsterte sie. »Ich bin doch kein Gespenst! Oder doch? Schon?« Sie suchte nach ihrem Spiegel. »Ich scheine heute abend jeden Menschen zu erschrecken.«

»Wen sonst?« fragte Hollmann.

»Den Hausknecht.«

»Was? Josef?«

»Nein, den andern, der Josef hilft. Sie wissen schon —«

Hollmann nickte. »Uns erschrecken Sie nicht, Lillian.«

Sie steckte den Spiegel weg. »War das Krokodil schon hier?«

»Nein. Es muß aber jeden Augenblick kommen und uns rauswerfen. Es ist pünktlich wie ein preußischer Feldwebel.«

»Josef ist an der Tür heute nacht. Ich habe mich erkundigt. Wir können raus. Kommen Sie mit?«

»Wohin? In die Palace Bar?«

»Wohin sonst?«

»In der Palace Bar ist nichts los«, sagte Clerfayt. »Ich komme gerade daher.«

Hollmann lachte. »Für uns ist immer genug los. Selbst wenn kein Mensch da ist. Alles außerhalb des Sanatoriums ist für uns bereits aufregend. Man wird hier bescheiden.«

»Wir können jetzt durchschlüpfen«, sagte Lillian Dunkerque. »Außer Josef paßt niemand auf. Der andere Hausknecht ist noch beschäftigt.«

Hollmann hob die Schultern. »Ich habe etwas Temperatur, Lillian. Plötzlich, heute abend — weiß der Teufel, warum! Vielleicht, weil ich den schmutzigen Sportwagen Clerfayts wieder gesehen habe.«

Eine Putzfrau kam herein und begann, die Stühle auf die Tische zu stellen, um aufzuwischen. »Wir sind auch schon mit Fieber ausgerissen«, sagte Lillian.

Hollmann sah sie verlegen an. »Ich weiß. Aber heute nicht, Lillian.«

»Auch wegen des schmutzigen Sportwagens?«

»Vielleicht. Wie ist es mit Boris? Will er nicht mit?«

»Boris glaubt, ich schliefe. Ich habe ihn schon heute nachmittag gezwungen, mit mir auszufahren. Er würde es nicht noch einmal tun.«

Die Putzfrau zog die Vorhänge auf. Gewaltig und feindlich stand die Landschaft auf einmal vor dem Fenster — die mondbeschienenen Hänge, der schwarze Wald, der Schnee. Die drei Menschen wirkten verloren dagegen. Die Putzfrau begann, die Lichter an den Wänden auszulöschen. Mit jedem gelöschten Licht schien die Landschaft einen Schritt weiter gegen die Menschen im Zimmer vorzurücken. »Da ist das Krokodil«, sagte Hollmann.

Die Oberschwester stand in der Tür. Sie lächelte mit starkem Gebiss und kalten Augen. »Die Nachtschwärmer, wie immer! Feierabend, meine Herrschaften!« Sie sagte nichts darüber, daß Lillian Dunkerque noch auf war. »Feierabend«, wiederholte sie. »Zu Bett! Zu Bett! Morgen ist auch noch ein Tag!«

Lillian stand auf. »Sind Sie dessen so sicher?«

»Ganz sicher«, erwiderte die Oberschwester mit deprimierender Fröhlichkeit. »Für Sie liegt ein Schlafmittel auf Ihrem Nachttisch, Miss Dunkerque. Sie werden ruhen wie in Morpheus' Armen!«

»Wie in Morpheus' Armen!« wiederholte Hollmann mit Abscheu, als sie gegangen war. »Das Krokodil ist die Königin der Klischees. Heute abend war sie noch gnädig. Warum müssen diese Polizistinnen der Gesundheit jeden Menschen, wenn er in ein Hospital kommt, mit dieser entsetzlich geduldigen Überlegenheit behandeln, als wäre er ein Kind oder ein Kretin?«

»Es ist die Rache für ihren Beruf«, erwiderte Lillian böse. »Wenn Kellner und Krankenschwestern das nicht hätten, stürben sie an Minderwertigkeitskomplexen.«

Sie standen in der Halle vor dem Aufzug. »Wohin gehen Sie jetzt?« fragte Lillian Clerfayt.

Er sah sie an. »Zur Palace Bar.«