In seiner Zeit hätte man es als Insubordination ausgelegt, wenn jemand in aller Öffentlichkeit einem Flottenbefehlshaber widersprach. Völlig undenkbar wäre es auch gewesen, dass ein Flottencaptain gegen diese Befehlshaber eine Verschwörung anzettelte, die so weit ging, dass man eines der eigenen Schiffe mitsamt seiner Besatzung opferte, um seine Ziele durchzusetzen. So viel hatte sich in den letzten hundert Jahren verändert, und alles war eine Folge dieses scheinbar niemals endenden Kriegs. Gleich geblieben war auch in hundert Jahren Kälteschlaf nur die Erkenntnis, dass man einem schlecht gelaunten Captain besser aus dem Weg ging. Vermutlich hatte sich daran sogar in den letzten tausend Jahren nichts geändert. Offenbar gab es Traditionen und Erkenntnisse, die zu allen Zeiten Gültigkeit besaßen.
Nicht all diese Traditionen und Erkenntnisse waren auch zwangsläufig gut, dennoch empfand er es als tröstend, dass sich nicht alles verändert hatte.
Eine Stunde später war Geary in den Konferenzraum zurückgekehrt. Die Atmosphäre war wie üblich angespannt. Er stand am Kopfende des Tischs und versuchte, nicht auf die Stelle zu sehen, an der gleich Captain Kilas Bild auftauchen würde. Nach und nach wurden die Stühle besetzt, und der Tisch wuchs, um allen Anwesenden Platz zu bieten.
Desjani betrat den Raum und war damit außer Geary als Einzige real anwesend. Sie nahm neben ihm Platz, bemerkte seinen Blick, nickte kurz und schaute dann auf den Tisch. Er konnte ihre Anspannung spüren, wie bei einer Raubkatze, die sich auf ihre Beute stürzen wollte, aber wusste, dass sie sich noch eine Weile gedulden musste. Genauso verhielt sie sich kurz vor einem Angriff auf ein Syndik-Kriegsschiff, nur dass ihr Ziel diesmal ein Offizier aus den Reihen der Allianz war.
Zu Gearys Verwunderung und Erleichterung tauchte neben Captain Cresida das Bild von Captain Duellos auf. Seine Uniform war gereinigt und geflickt worden, und von seinen leicht steifen Bewegungen abgesehen, konnte man ihm kaum anmerken, was er in letzter Zeit durchgemacht hatte.
Inmitten der Captains der Callas-Republik und der Rift-Föderation nahm das Bild von Co-Präsidentin Rione Gestalt an. Sie sah zu Geary und nickte, was in ihrem Fall auch bedeutete, dass die Falle bereit war zuzuschnappen. Aber in ihren Augen konnte er auch eine Warnung ablesen. Sie sind ein mieser Schauspieler und ein noch schlechterer Lügner, Captain Geary, hatte Rione ihm noch vor nicht einmal einer halben Stunde vorgehalten. Sie werden wütend sein, aber Sie müssen versuchen, diese Wut so aussehen zu lassen, als richte sie sich gegen jemanden, dessen Identität Ihnen nicht bekannt ist. Kommen Sie nicht auf den ersten Wurm zu sprechen, spekulieren Sie auch nicht darüber, woher die Würmer gekommen sein könnten, bis Sie die Anzeichen dafür empfangen, dass die Falle bereit ist. Wenn Sie nicht über die Dinge reden, die wir wissen, dann müssen Sie auch nicht lügen, und dann hören Sie sich auch nicht so an, als würden Sie lügen.
Es gab Schlimmeres als ein schlechter Lügner zu sein, fand er, während er darauf wartete, dass auch die anderen Schiffskommandanten zur Konferenz erschienen. Außerdem hatte er ja Rione dabei, die einspringen konnte, wenn er doch noch lügen musste. Er stellte sich vor, wie die Flottenoffiziere einfach nur wissend nicken würden, sollten sie erfahren, dass er die Hilfe einer Politikerin benötigte, damit er erfolgreich um die Wahrheit herumredete.
Colonel Carabali erschien so ungerührt wie immer, nickte aber Geary scheinbar zum Gruß zu, obwohl sie in Wahrheit bestätigte, dass ihre Marines einsatzbereit waren.
Die letzten Offiziere trafen ein, die meisten davon junge Männer und Frauen von den kleinsten und damit am weitesten entfernten Schiffen der Flotte, die sich leicht dabei verrechnet hatten, mit welcher zeitlichen Verzögerung ihr Bild auf der Dauntless zu sehen sein würde. Alle saßen schweigend da, während Geary aufstand und mit mühsam beherrschter Stimme zu reden begann. »Einer unserer Schweren Kreuzer, die Lorica, wurde zerstört und die Crew ermordet. Verantwortlich dafür sind Individuen, die ihre politischen Ziele höher einstufen als das Leben des Flottenpersonals.« Rione hatte genau diese Einleitung vorgeschlagen, um die Attentäter mit jeder Art von Politik in Verbindung zu bringen, die von der Flotte verabscheut wurde. »Die Dauntless ist nur knapp dem gleichen Schicksal entgangen.«
Captain Badaya schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, an dem er an Bord seines Schiffs saß. Die Konferenzsoftware ergänzte aufmerksam das Geräusch, sodass es so wirkte, als hätte er auf den gemeinsamen Konferenztisch geschlagen. »Hinterhältige Bastarde! Wie kann irgendjemand in dieser Flotte etwas über diese Dinge wissen und trotzdem schweigen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Geary und musterte ein Gesicht nach dem anderen. Ihm fiel auf, dass Kila mit erboster Miene von links nach rechts schaute, damit sie ihm nicht in die Augen sehen musste. »Das hier ist die letzte Chance für jeden, der etwas weiß, sein Wissen zu offenbaren. Wer jetzt weiter schweigt, obwohl er Informationen besitzt, wird mit der gleichen Härte bestraft werden wie die Verschwörer selbst.«
Niemand sagte etwas.
»Ich weiß, in dieser Flotte ist nicht jeder mit meinen Entscheidungen einverstanden«, ergänzte Geary. »Nun, es ist eine Sache, eine gegenteilige Meinung zu haben. Kameraden zu ermorden und Kriegsschiffe zu zerstören, ist eine ganz andere Sache. Ich glaube, ich habe inzwischen jedem bewiesen, dass ich zu meinem Wort stehe. Diejenigen, die die Lorica vernichtet haben, sind ganz sicher auch für die Zerstörung des Shuttles im Lakota-System verantwortlich, bei der Captain Casia und Commander Yin ums Leben kamen. Diese beiden Offiziere wurden auch ermordet, um sie zum Schweigen zu bringen. Jeder, der etwas über die Hintergründe weiß, sollte sich vor Augen halten, dass sein Leben in der Hand von Leuten liegt, die morden, nur um nicht entlarvt zu werden. Wer jetzt vortritt, wird von uns vor diesen Leuten beschützt werden.«
Es schloss sich ein noch längeres Schweigen an.
Duellos verzog das Gesicht, als hätte er etwas Verdorbenes runtergeschluckt. »Meiner Ansicht nach müssen die Drahtzieher in völliger Anonymität vorgehen, da ich mir nicht vorstellen kann, dass nicht irgendjemand, der früher ihre Sache unterstützt hat, spätestens jetzt Namen nennen würde.«
»Würde jemand auf eine Fährte stoßen, die zu diesen Drahtziehern führt«, warf Captain Tulev ein, »dann wäre es mit der richtigen Entschlossenheit früher oder später auch möglich, diese Leute zu identifizieren, selbst wenn sie ihre Spuren noch so gut verwischen.«
»Vielleicht musste Commander Gaes ja deswegen zusammen mit der Lorica sterben«, gab Captain Cresida zu bedenken. »Sie hatte sich zwischendurch Falco angeschlossen, also hatte sie eine Weile mit den Leuten engen Kontakt, die gegen Captain Geary als Befehlshaber dieser Flotte eingestellt sind. Seit der Rückkehr zur Flotte war sie allerdings loyal. Möglicherweise hat sie diese Kontakte bemüht, um die Hintermänner ausfindig zu machen.« Geary hatte mit Cresida nicht über diese Dinge gesprochen, aber sie war intelligent genug, um die Zusammenhänge selbst zu erkennen, nachdem die Lorica zerstört worden war.
Der befehlshabende Offizier der Daring schüttelte den Kopf. »Das sind alles nur Spekulationen. Wir brauchen Fakten. Wir brauchen handfeste Beweise!«
»Wirklich?«, gab Cresida zurück. »Im Verhörraum würde die Wahrheit auch ans Licht kommen. Ich melde mich hiermit freiwillig, um mich über mein Wissen zu diesen Würmer befragen zu lassen, und ich lege allen befehlshabenden Offizieren ans Herz, meinem Beispiel zu folgen.«