»Sie haben den Krieg geerbt«, betonte Geary. »Ich werde nicht so tun, als könnte ich alles verstehen, was sich im Lauf des letzten Jahrhunderts abgespielt hat, aber es scheint hier jede Menge Schuldzuweisungen zu geben.«
»Ich halte nichts davon, Ausreden für Fehler vorzubringen, Captain Geary. Weder für meine eigenen Fehler noch für die von irgendwem sonst. Denken Sie nur immer daran, dass die Leute, denen Sie vertrauen, gutheißen, was Sie soeben getan haben. Wenn Sie sich selbst nicht vertrauen wollen, dann vertrauen Sie wenigstens diesen Menschen.« Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ Gearys Quartier ohne ein weiteres Wort.
Noch sechs Stunden bis zum Sprung nach Atalia. So sehr sich Geary auch vor der Reserveflotte fürchtete, die die Syndiks dort in Stellung gebracht hatten, so verspürte er doch auch eine wachsende Rastlosigkeit und den dringenden Wunsch, das Ganze endlich zum Abschluss zu bringen. So oder so würde der langwierige Rückzug der Allianz-Flotte bald ein Ende haben.
»Captain Geary.« Colonel Carabalis Gesicht ließ keine Gefühlsregung erkennen. »Ich bitte um ein Gespräch unter vier Augen, bevor wir den Sprung nach Atalia beginnen.«
»Ja, natürlich, Colonel. In den nächsten Stunden habe ich keine Termine, wir können uns also zusammensetzen, wann immer es Ihnen recht ist.«
»Das wäre jetzt sofort, Sir.«
»Okay.« Er gab die Erlaubnis, dass Carabalis Bild in seinem Quartier auftauchen durfte, dann bedeutete er ihrer virtuellen Präsenz, Platz zu nehmen. Sie ging zu einem Stuhl und setzte sich, wobei sie die Schultern straffte und förmlich dasaß. »Was führt Sie zu mir?«
»Betrachten Sie es als eine Erkundungsmission, Sir.« Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Was beabsichtigen Sie zu tun, wenn diese Flotte das Allianz-Gebiet erreicht, Captain Geary? Mir sind verschiedene Berichte zu Ohren gekommen, und ich wüsste gern die Wahrheit.«
Die Loyalität der Marines gegenüber der Allianz hatte einen legendären Ruf, aber angesichts der zahlreichen Veränderungen, die sich innerhalb von hundert Jahren vollzogen hatten, rätselte Geary schon seit geraumer Zeit, wie die Marines heute über die politischen Autoritäten der Allianz dachten und was sie von den Angeboten hielten, Geary nach der Heimkehr als Diktator zu installieren. Ihm war jedoch nie eine Möglichkeit eingefallen, dieses Thema Carabali gegenüber anzuschneiden, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, er versuche herauszubekommen, ob er mit der Unterstützung der Marines rechnen konnte. Jetzt hatte sich die Gelegenheit ganz von selbst ergeben. »Ich beabsichtige, die Befehle zu befolgen, die man mir dann geben wird«, erklärte er und sah ihr dabei fest in die Augen. »Ich werde Vorschläge unterbreiten, was unseren weiteren Umgang mit den Syndiks angeht, aber ich habe keine Ahnung, wie die Verantwortlichen das aufnehmen werden. Ist es das, was Sie wissen müssen?«
»Größtenteils.« Carabali musterte ihn intensiv. »Ich werde nicht Ihre Intelligenz beleidigen, indem ich so tue, als wären Sie einfach nur ein Offizier dieser Flotte. Sie können wählen, ob Sie die Ihnen gegebenen Befehle wirklich ausführen werden oder ob Sie etwas ganz anderes tun wollen.«
»Und Sie möchten wissen, ob ich beabsichtige, etwas ganz anderes zu tun?«
Carabali nickte und ließ noch immer nicht erkennen, was in ihr vorging.
Geary schüttelte den Kopf. »Nein, Colonel, ich beabsichtige nicht, irgendetwas zu tun, das gegen meinen Eid gegenüber der Allianz verstoßen könnte. Ist das deutlich genug?«
»Da es von Ihnen kommt, ja.« Wieder machte sie eine kurze Pause. »Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich in der Flotte, dass Sie mehr tun wollen, als nur Befehle zu befolgen.«
»Die Leute hören, was sie hören wollen, Colonel. Solange sie nur reden, hält sie das davon ab, der Allianz zu schaden, und dagegen habe ich nichts einzuwenden.«
»Der Allianz zu schaden? Wie meinen Sie das?«
Er lehnte sich kopfschüttelnd zurück. »Sehen Sie, die Sternensysteme, die Bevölkerung oder die Flotte, das alles sind nicht die wahren Stärken der Allianz. Die Stärken sind die Prinzipien, an die wir glauben und die wir befolgen. Ich glaube, wir können uns selbst viel größeren Schaden zufügen, als es die Syndiks je schaffen könnten. Ich plane keinen Staatsstreich, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass irgendjemand in meinem Namen handelt.« Er fürchtete sich nicht davor, dass sich seine Antworten in der Flotte herumsprachen und dabei auch bei seinen fehlgeleiteten Anhängern landeten. Im Kern war es das, was er auch zu Badaya gesagt hatte.
Abermals sah sie ihn an, dann nickte sie. »Werden Sie versuchen, das Kommando über diese Flotte zu behalten?«
»Ja.«
»Obwohl Sie das Kommando im Syndik-Heimatsystem nur übernommen haben, weil Sie mussten?«
»Ja.« Er lächelte flüchtig. »Ich wusste nicht, dass das so offensichtlich war.«
»Das war es auch nicht.« Auch Carabali konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich bin es gewohnt herauszufinden, was in einem Flottenoffizier vor sich geht. Schließlich hängt das Überleben meiner Marines oftmals davon ab.« Ihr Gesicht wurde wieder ausdruckslos. »Glauben Sie, Sie können diesen Krieg beenden?«
Gerade wollte er antworten, da fiel ihm etwas auf. »Sie sagten gerade ›beenden‹, nicht ›gewinnen‹.«
»Ich habe die Frage gestellt, die ich stellen wollte, Sir.«
»Ich wollte mich nur vergewissern.« Er beugte sich vor und sah sie forschend an, doch sie ließ sich nichts anmerken. »Es gibt noch vieles, was ich über diesen Krieg in Erfahrung bringen muss. Zum Beispiel, wie die Flotte über ihn denkt, wie die Allianz über ihn denkt.«
Nachdenklich rieb sie sich das Kinn. »Ich werde so lange kämpfen, wie ich muss, um die Allianz zu beschützen. Darüber hinaus … bin ich es leid, entscheiden zu müssen, wer überleben darf und wer nicht, Captain Geary, und das nicht erst seit gestern.«
»Glauben Sie mir, das kann ich Ihnen nachfühlen.«
»Ja, ich weiß. Trotzdem ist es etwas anderes. Die Flotte bietet den einen oder anderen Luxus, den sich Bodentruppen nicht leisten können, außerdem unterscheidet sich Ihre persönliche Geschichte von unserer. Sie sind in Friedenszeiten aufgewachsen, und bis zum Vorfall bei Grendel haben Sie in Friedenszeiten gedient.« Carabali schaute zur Seite, als würde sie auf etwas weit Entferntes blicken. »Darf ich Ihnen eine Begebenheit erzählen? Es gab da einen Lieutenant, eine Frau, die mit dem Krieg aufgewachsen war und die in die Fußstapfen ihrer Großmutter und ihres Vaters trat. Bei einem ihrer ersten Kampfeinsätze am Boden wurde sie mit ihrem Zug von den übrigen Marines ihrer Einheit abgeschnitten. Die Atmosphäre um sie herum war von den chemischen Kampfstoffen der Syndiks verseucht, die Energieversorgung in den Panzeranzügen erreichte ein kritisches Niveau. Wenn sie zu tief sank für das Lebenserhaltungssystem, dann würden sie und ihre ganzer Zug sterben.«
Wie zuvor studierte Geary das Gesicht des Colonels, das nach wie vor nichts über die Gefühle seines Gegenübers verriet. »Eine unerfreuliche Situation, ganz egal wie erfahren ein Offizier ist.«
»Ja, allerdings hatte ich noch nicht erwähnt, dass dieser Zug zuvor einen Bunker mit Syndiks eingenommen hatte, die allesamt über genügend Energie für ihre eigenen Schutzanzüge verfügten. Ein Unteroffizier ließ diese Frau wissen, dass es eine Möglichkeit gab, die Syndik-Anzüge anzuzapfen und deren Energie für uns zu nutzen.«
Wieder hielt Carabali inne, während Geary sich in ihre Lage versetzte und ein Schaudern verspürte. »Aber wenn den Syndik-Anzügen die Energie entzogen wurde, dann würden die sterben.«
»Oder sie würden getötet werden, weil davon auszugehen war, dass sie sich gegen die Marines zur Wehr setzen würden, sobald ihnen klar war, was mit ihnen geschehen sollte«, entgegnete Carabali. »Diese Frau wusste, es kam nur eine einzige Entscheidung infrage, aber sie wusste auch, dass diese Entscheidung sie für den Rest ihres Lebens verfolgen würde.«