Er schnaubte aufgebracht. »Syndik-Befehlshaber sind nicht dafür bekannt, großen Wert auf das Leben ihrer Besatzung zu legen.«
»Manche schon! Sie haben selbst angemerkt, dass manche Crew viel zu früh die Rettungskapseln aufgesucht hat. Warum sollten die Kommandanten den Befehl dazu geben, wenn ihnen das Schicksal ihrer Leute egal wäre?«
Das war ein gutes Argument. In diesen Fällen konnte es sein, dass an Bord Panik ausgebrochen war, aber es war auch möglich, dass der jeweilige Captain um das Wohl seiner Untergebenen besorgt gewesen war. »Und auch wenn der Kommandant sich nicht um seine Crew schert, sind die Leute selbst vielleicht daran interessiert zu überleben.« Er zeichnete eine Forderung auf und schickte sie ab, dann befahl er dem Achten Leichten Kreuzergeschwader und dem Dreiundzwanzigsten Zerstörergeschwader, ein wenig mehr zu beschleunigen und auf einen Abfangkurs zu dem Schweren Kreuzer der Syndiks zu gehen. Schließlich lehnte er sich nach hinten und bemühte sich, Ruhe zu bewahren, obwohl er sich zunehmend rastlos fühlte.
»Captain?«, meldete sich auf einmal der Wachhabende der Gefechtssysteme zu Wort. »Der Schaden an dem Syndik-Kreuzer, der unsere Rettungskapseln an Bord genommen hat, ist irgendwie eigenartig.«
Desjani sah den Wachhabenden an. »Was verstehen Sie unter ›eigenartig‹?«
»Wir haben die Sensoren darauf gerichtet, und die Analyse des Schadens ergibt, dass der nicht durch eine Vielzahl von Einschlägen verursacht wurde, sondern durch einen einzigen Treffer.«
»Ein einziger Treffer?« Desjani machte eine nachdenkliche Miene. »Was könnte das gewesen sein?«
»Unbekannt, Captain. Keine Waffe, über die die Allianz verfügt, könnte so etwas bewirken.«
Desjani dachte nach. »Könnte es ein Zusammenstoß gewesen sein?«
Der Wachhabende führte einige Berechnungen durch. »Theoretisch wäre das möglich, Captain. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, dass die Folgen nicht noch gravierender ausfallen würden. Was immer es auch gewesen sein mag, es ist genau in den Bug eingeschlagen, und da der gesamte Bug in Mitleidenschaft gezogen wurde, kann es kein kleines Objekt gewesen sein.«
»Hmm, das ist wirklich eigenartig. Aber solange wir keinen konkreteren Hinweis auf die Ursache finden, werden wir davon ausgehen, dass das Schiff mit irgendetwas kollidiert ist. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie eine bessere Erklärung für diesen Schaden finden.« Plötzlich drehte sie sich zu Geary um, als sei ihr aufgefallen, dass er etwas sagen wollte. »Sir?«
»Warum sind sie nach Varandal gesprungen?«, fragte er sie.
»Die Syndik-Reserveflotte? Um den Teil der Allianz-Streitmacht zu zerstören, der aus dem System entkommen ist.«
»Aber der Befehl muss gelautet haben, uns zu stoppen, bevor wir nach Varandal gelangen können. Syndiks improvisieren nicht, wenn es um ihre Befehle geht.« Geary musterte sein Display, als sei dort irgendwo die Antwort auf seine Überlegungen zu finden. »Warum sind sie nicht geblieben, um uns anzugreifen, sobald wir hier eintreffen?«
»Dann müssen sie den Befehl gehabt haben, nach Varandal zu springen. Die Allianz-Schiffe, die herkamen, trafen zufällig auf die Syndik-Flotte, die auf dem Weg zum Sprungpunkt war.« Desjani gab einige Befehle ein, dann nickte sie. »Ja, das passt zu der Verteilung der Trümmer im System. Die Reserveflotte sollte also gar nicht hier auf uns warten, sondern Varandal angreifen und uns dort auflauern, damit sie uns attackieren können, wenn wir nicht mehr mit ihnen rechnen, und wenn unsere Brennstoffzellen fast ganz am Ende sind.«
Das klang überzeugend, auch wenn da immer noch irgendwas war, das ihm nicht gefiel. »Es wäre viel einfacher gewesen, das hier bei Atalia zu erledigen.« Niemand sagte etwas dazu, also lehnte er sich zurück und ließ seine Gedanken schweifen, die diesmal kein Ziel fanden.
Ihm war nicht bewusst, wie viel Zeit verstrichen war, als der Komm-Wachhabende ihn auf einmal ansprach: »Captain Geary, Sir. Der befehlshabende Offizier des Syndik-Kreuzers hat sich gemeldet. Sie bietet uns an, die Gefangenen an uns auszuliefern, wenn Sie sich einverstanden erklären, nicht auf ihre Rettungskapseln zu schießen.«
»Das ist eine Falle«, erklärte Desjani sofort. »Oder ein Trick.«
»Könnte sein«, stimmte Geary ihr zu, während er die eingehende Mitteilung annahm.
Auf dem Display tauchte das Gesicht der Befehlshaberin des feindlichen Schiffs auf. Sie hatte einen trotzigen Gesichtsausdruck, aber über ihren Augen lag ein glasiger Schimmer, als stünde auch sie noch unter Schock. »Mein Schiff kann sich gegen einen Angriff nicht zur Wehr setzen. Ich bin bereit, Ihnen meine Gefangenen zu übergeben, wenn Sie meine Crew nicht angreifen. Ich werde als Geisel mit den Gefangenen an Bord bleiben, nachdem meine Besatzung sich in den Rettungskapseln in Sicherheit gebracht hat. Ich werde keinen Widerstand leisten, wenn Ihr Personal an Bord kommt, damit Sie Ihre Leute abholen können. Sollten Sie allerdings versuchen, mein Schiff in Ihre Gewalt zu bringen, dann werde ich es zerstören. Das sind meine Bedingungen. Wenn Sie nicht damit einverstanden sind, werde ich bis zum Tod meines Schiffs und aller an Bord befindlichen Personen kämpfen.«
»Ein besseres Angebot bekommen Sie nicht«, urteilte Rione.
»Auch kein riskanteres«, wandte Desjani ein. »Sie könnte warten, bis wir nahe genug sind, und dann ihr Schiff in die Luft jagen.«
Es war keine einfache Entscheidung. Bislang hatten sich die Syndiks selten als vertrauenswürdig erwiesen. »Irgendetwas ist mit ihr los«, überlegte er. »Sehen Sie sich diesen Blick an. Sie wirkt zutiefst erschüttert.«
Desjani kniff die Augen zusammen, während sie die Syndik-Befehlshaberin musterte. »Die haben hier gewonnen. Es ist seltsam, dass sie so dreinschaut. Vielleicht ist sie verletzt worden.«
»Ja, vielleicht.« Alle warteten gebannt. Nur er konnte die Entscheidung treffen – wieder einmal. Er musste an Colonel Carabalis Bemerkung denken: darüber entscheiden zu müssen, wer leben durfte und wer zu sterben hatte. Er wollte das nicht erneut tun, doch es führte kein Weg daran vorbei. »Also gut, ich werde auf ihre Bedingungen eingehen. Nur so können wir die Gefangenen retten. Ansonsten müssten wir sie auf dem Kreuzer ihrem Schicksal überlassen und zusehen, wie der uns entkommt.«
Desjani verzog keine Miene, während sie etwas auf ihrem Display eintippte. »Ich empfehle Ihnen, die Rifle und die Culverin aus der Gruppe der Zerstörer zu nehmen, die ohnehin auf Abfangkurs zu diesem Schweren Kreuzer sind. Sie müssen dicht heranfliegen und ihre Vektoren anpassen, dann müssen sie Leinen spannen und die Gefangenen manuell an Bord holen. Der Rest des Geschwaders soll die Rettungskapseln der Syndiks in Schach halten.«
Geary nickte zustimmend. »Und was ist mit den Leichten Kreuzern?«
»Die würde ich um den Schweren Kreuzer herum verteilen«, schlug Desjani vor. »Sie sollen den Eindruck erzeugen, dass sie noch näher herankommen werden. Falls die Syndiks planen, ihr eigenes Schiff in die Luft zu jagen, werden sie mit etwas Glück damit warten, weil sie hoffen, noch ein paar von unseren Leichten Kreuzern mit in den Tod zu nehmen.«
»Alles klar.«
Nicht ganz zwei Stunden später glitten die Rifle und die Culverin in ihre Positionen und passten Geschwindigkeit und Kurs an das Syndik-Schiff an. Als das Manöver abgeschlossen war, bewegten sich die drei Kriegsschiffe immer noch mit beträchtlicher Geschwindigkeit durchs All, blieben aber relativ zueinander so exakt auf ihren Positionen, dass es schien, als stünden sie erstarrt im Raum. Nicht weit entfernt war eine kleine Anzahl von Syndik-Rettungskapseln unterwegs, mit denen sich die Crew des Kreuzers in Sicherheit brachte.