Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass ihn der Verlust der Dauntless genauso schmerzen würde wie der Verlust der Merlon, auch wenn er diesmal nicht der Captain war.
Er begab sich in die Tiefen des Schiffs und beriet sich mit seinen Vorfahren, die ihm diesmal nur wenig Trost spenden konnten. Könnten seine Vorfahren doch nur Raum und Zeit verdrehen, damit seine Flotte noch in diesem Moment in Varandal auftauchte, um sofort auf die Syndik-Reserveflotte loszugehen. Er wollte es jetzt entscheiden und jetzt beenden. Aber das Weltall war unermesslich groß, und bis zum Sprungpunkt nach Varandal benötigten sie immer noch über sechs Stunden, ganz zu schweigen von den nahezu vier Tagen im Sprungraum.
Schließlich hatte er auf seinem Spaziergang die Räumlichkeiten des Geheimdienstes erreicht. »Wo ist die Syndik-Befehlshaberin?«, fragte er.
»Auf dem Weg in die Arrestzelle, Sir«, antwortete Lieutenant Iger. »Captain Desjani begleitet sie dorthin.«
Etwas daran kam ihm seltsam vor. »Ist das etwas Ungewöhnliches?«
Iger nickte. »Oh ja, Sir.« Er sah in Richtung Verhörraum und verzog den Mund. »Wir lassen es nicht zu, dass unseren Gefangenen körperlicher Schaden zugefügt wird. Aber auf dem Weg zu den Zellen müssen sie die gleichen Gänge benutzen wie unsere Crew. Und die reagiert für gewöhnlich in der Form, dass sie den Gefangenen den Weg so unangenehm wie möglich macht.«
»Also ein Spießrutenlaufen.«
»Richtig, Sir«, bestätigte Iger. »Keine körperliche Gewalt, aber Bemerkungen und Gesten, und man bewirft sie mit Gegenständen, die sie nicht verletzen können, die aber zum Beispiel ihre Uniform beschmutzen. Die Marines haben zwar den Befehl, ihre Gefangenen zu beschützen, aber einige Dinge werden dennoch toleriert.«
Das war nur zu verständlich, immerhin bekam man den verhassten Gegner nur selten persönlich zu sehen. Geary blickte zu der Luke, durch die Desjani die Abteilung verlassen hatte. »Aber die Crew wird das nicht machen, wenn Captain Desjani die Gefangene begleitet?«
»Nein, Sir, das nehme ich nicht an.«
Wie seltsam. Eine höfliche Geste gegenüber dem Feind. Geary wartete eine Weile ab, dann bat er Desjani, ihn in seinem Quartier aufzusuchen, wenn sie Zeit fände. »Ich habe von Ihnen keine abschließende Einschätzung unserer Pläne erhalten«, begann er, als sie eintraf.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Desjani. »Es ist das Beste, was wir in einer so schlechten Situation tun können. Das ist meine Einschätzung. Eine bessere Vorgehensweise kann ich mir nicht vorstellen.«
»Danke, das wollte ich nur wissen.« Nach einer kurzen Pause fügte er an: »Ich hörte, Sie haben die Syndik-Befehlshaberin zu ihrer Arrestzelle begleitet.«
Desjani reagierte mit einer völlig ausdruckslosen Miene. »Das ist richtig, Sir.«
»Schon seltsam, nicht wahr? Wenn wir eine Chance darauf haben, diesem Krieg ein Ende zu setzen, dann sind Offiziere wie diese Frau die Leute, mit denen wir uns verständigen müssen. Offiziere, die bereit sind ihr Wort zu halten und denen ihre Crew so sehr am Herzen liegt, dass sie sich über unerbittliche Befehle hinwegsetzen. Aber um die Syndiks an den Verhandlungstisch zu holen, müssen wir unser Bestes geben, um solche Offiziere zu töten.«
»Ich würde sagen, ›seltsam‹ ist eine Art es zu bezeichnen.« Immer noch verriet Desjanis Miene keine Gefühlsregung. »Würden solche Leute nicht mit solchem Eifer für eine Regierung kämpfen, vor der sie sich fürchten, dann hätte dieser Krieg schon vor langer Zeit enden können. Es ist schließlich nicht so, als könnten wir den Syndiks noch vertrauen, wenn es darum geht, mit ihnen zu verhandeln. Das wissen Sie selbst, immerhin haben Sie oft genug gesehen, wie sie versucht haben, uns zu hintergehen.«
»Das stimmt«, pflichtete Geary ihr bei. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
Desjani senkte kurz den Blick, dann sah sie ihn an und nickte.
»Warum haben Sie die Syndik-Offizierin durch die Korridore Ihres Schiffs eskortiert?«
Anstatt sofort zu antworten, schaute sie abermals weg, schließlich schüttelte sie den Kopf. »Sie hat sich ehrenvoll erwiesen. Ich wollte sie im Gegenzug auch ehrbar behandeln. Das ist alles.«
»Sie war bereit, ihr Leben für das Überleben ihrer Crew zu opfern«, betonte Geary. »Mich als ehemaligen Befehlshaber eines Schiffs hat das sehr beeindruckt.«
»Erwarten Sie nicht zu viel von mir«, warnte sie ihn. »Ich hasse diese Leute noch immer für das, was sie getan haben. Und das gilt auch für diese Frau. Ich bin mir sicher, sie hasst uns auch. Wäre sie wirklich so ehrbar, dann frage ich mich, warum sie für die Syndiks kämpft.«
»Die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich sehe nur gewisse Gemeinsamkeiten, das ist alles. Jedenfalls, was sie betrifft.«
»Haben wir ihren jüngeren Bruder getötet?« Desjani kniff die Augen zusammen, als sie merkte, was ihr rausgerutscht war. »Vielleicht haben wir das ja gemacht. Ab welchem Punkt ergibt das Hassen und das Töten keinen Sinn mehr?«
»Tanya, Hass ergibt nie einen Sinn. Töten ist manchmal notwendig. Man tut, was man tun muss, um sein Heim und seine Familie und die Dinge zu beschützen, die einem wichtig sind. Aber Hass verdreht den Menschen nur den Verstand, bis die nicht mehr wissen, wann sie töten müssen und wann sie es nicht dürfen.«
Ihre Miene war noch immer wie versteinert, doch ihre Augen hatten etwas Suchendes an sich. »Haben die lebenden Sterne Ihnen das gesagt?«
»Nein, meine Mutter.«
Plötzlich verzog sie den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Sie haben auf Ihre Mutter gehört?«
»Manchmal.«
»Ihre Mutter …« Desjani unterbrach sich und wurde wieder ernst.
Geary war klar, was ihre Reaktion bedeutete. Ganz gleich, was sie über seine Mutter hatte sagen wollen, ihr war bewusst geworden, dass sie bereits seit sehr langer Zeit tot war. Während er im Kälteschlaf durch das All trieb, war sie älter und älter geworden und irgendwann gestorben. Dass er hundert Jahre in dieser Rettungskapsel verbracht hatte, lag nur daran, dass die Syndiks angegriffen hatten. Dass die Syndiks beschlossen hatten, diesen Krieg zu beginnen.
»Die haben Ihnen Ihre Familie genommen«, sagte Desjani schließlich. »Die haben Ihnen alles genommen.«
»Ja, das ist mir klar.«
»Das tut mir leid.«
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist etwas, womit ich leben muss.«
»Wollen Sie sich nicht rächen?«
Jetzt war Geary derjenige, der einen Moment lang zu Boden blickte, während er nachdachte. »Rache? Die Syndik-Führer, die diese ersten Angriffe befahlen, mit denen dieser Krieg seinen Lauf nahm, sind selbst längst tot. An ihnen kann ich mich nicht mehr rächen.«
»Ihre Nachfolger sind aber noch an der Macht«, hielt Desjani dagegen.
»Tanya, wie viele Leute soll ich töten und wie viele soll ich in den Kampf schicken, nur um ein Verbrechen zu rächen, das vor hundert Jahren begangen wurde? Ich bin nicht vollkommen. Könnte ich irgendwie die Syndik-Bastarde in die Finger bekommen, die diesen Krieg vom Zaun gebrochen haben, dann würde ich sie dafür leiden lassen. Aber diese Leute sind längst tot. Ich versuche zu verstehen, um was es in diesem Krieg überhaupt noch geht. Eine Seite will sich doch immer nur noch für die letzte erlittene Niederlage oder die letzte Grausamkeit rächen. Das Ganze ist längst zu einem Selbstzweck geworden, der sich im Kreis dreht. Sie und ich, wir wissen, dass sowohl die Allianz als auch die Syndikatwelten langsam aber sicher unter dem Druck dieses unendlichen Krieges zu zerbrechen drohen.«