Mit einem Mal schlug Dwalin die Augen auf und sah sie einen nach dem andern an. »Wo ist Thorin?«, fragte er.
Es war ein Schock. Natürlich, sie waren nur dreizehn, zwölf Zwerge und der Hobbit. Wo war bloß Thorin? Sie überlegten, welch ein böses Geschick ihn ereilt haben mochte, ob Magie oder Ungeheuer; und es grauste sie davor, so verlassen und verloren in dem finsteren Wald zu liegen. Dann sanken sie einer nach dem andern in einen unruhigen Schlaf voller Schreckensträume, während der graue Abend in die schwarze Nacht überging; und so, wie sie da lagen, zu müd und elend, um auch nur Wachen einzuteilen, müssen wir sie einstweilen verlassen.
Thorin war viel früher in Gefangenschaft geraten als sie. Erinnert ihr euch, dass Bilbo in einen bleiernen Schlaf gefallen war, als er in den Lichtkreis der Elben trat? Beim nächsten Mal war es Thorin gewesen, der zuerst vortrat, und als die Lichter ausgingen, fiel er um wie versteinert. Der Lärm der in der Nacht herumirrenden Zwerge, ihre Schreie, als die Spinnen sie fingen und fesselten, und all das Kampfgetöse am nächsten Tag waren ungehört über ihn hinweggegangen. Dann waren die Waldelben gekommen, hatten ihn gefesselt und davongetragen.
Denn die Leute bei den nächtlichen Festgelagen waren Waldelben gewesen, wer sonst? Waldelben sind kein bösartiges Volk. Wenn sie einen Fehler haben, dann ist es ihr Misstrauen gegen Fremde. Obwohl sie auch in jener Zeit noch über beträchtliche Zauberkräfte verfügten, waren sie sehr scheu. Sie waren anders als die Hochelben aus dem Westen, gefährlicher und nicht so klug. Denn die meisten von ihnen (ebenso wie ihre verstreut lebenden Verwandten in den Berg- und Hügelländern) stammten von jenen uralten Stämmen ab, die nie in den Westen, ins Elbenland gezogen waren. Dorthin waren die Lichtelben, die Tiefelben und die Meerelben gezogen und hatten lange Zeiten hindurch dort gelebt, waren schöner, weiser und gelehrter geworden, hatten magische Kräfte und Kunstfertigkeiten gewonnen, mit denen sie schöne und wunderbare Dinge schufen, bevor einige von ihnen in die Weite Welt zurückkehrten. Hier waren die Waldelben immer geblieben, auch noch im Zwielicht von Sonne und Mond. Am liebsten aber war ihnen das Sternenlicht, und sie streiften durch die großen, hochgewachsenen Wälder in den Ländern, die heute verschollen sind. Meistens wohnten sie an den Waldrändern, von wo sie bisweilen zu einem Jagdzug aufbrachen oder bei Mond- und Sternenschein über offenes Land laufen oder reiten konnten; und nach der Ankunft der Menschen zogen sie sich immer mehr ins Abendrot und in die Dämmerung zurück. Trotzdem, sie waren und blieben Elben, und die Elben heißen das Gute Volk.
In einer großen Höhle im Düsterwald, wenige Meilen von seinem östlichen Rand, lebte zu dieser Zeit ihr mächtigster König. Vor dem großen steinernen Tor floss ein Fluss vorüber, der von den bewaldeten Höhen herabkam und in die Sümpfe zu Füßen des Hochlandes mündete. Die große Höhle, an die sich nach allen Seiten ungezählte kleinere anschlossen, zog sich weit unter der Erde hin, mit vielen Gängen und geräumigen Hallen, aber sie war heller und reinlicher als die Orkstollen und auch nicht so tief und so gefahrenreich. Eigentlich lebten und jagten die Untertanen des Königs vor allem in den lichteren Teilen des Waldes; sie wohnten dort in Hütten auf dem Boden oder im Geäst. Von den Bäumen waren ihnen die Buchen am liebsten. Die Höhle des Königs war zugleich sein Palast, seine Schatzkammer und die Festung seines Volkes gegen Feinde.
Außerdem war sie der Kerker für seine Gefangenen. Soviel über die Höhle, zu der die Waldelben Thorin schleppten – wobei sie nicht allzu sanft mit ihm umgingen, denn sie mochten die Zwerge nicht und hielten ihn für einen Feind. In alten Zeiten hatten sie mit manchen Zwergenvölkern Krieg geführt, denen sie vorwarfen, ihnen einen Schatz geraubt zu haben. (Fairerweise muss gesagt werden, dass die Zwerge die Sache anders sahen: Sie behaupteten, sich nur genommen zu haben, was ihnen zustand, denn ein Elbenkönig habe sie sein Rohgold und Rohsilber schmieden lassen und ihnen nachher den vereinbarten Lohn verweigert.) Wenn der Elbenkönig eine Schwäche hatte, so war es die Begierde nach Schätzen, besonders nach Silber und weißen Edelsteinen; und obgleich seine Schatzkammern schon übervoll waren, wollte er immer noch mehr haben, so viel wie andere Elbenfürsten in alter Zeit. Sein Volk hatte weder Bergwerke, noch konnte es die Metalle und Edelsteine bearbeiten; und auch um Handel und Ackerbau kümmerten sich die Elben nur wenig. All dies war jedem Zwerg bekannt, doch Thorins Familie hatte mit den alten Streitigkeiten nie etwas zu tun gehabt. Darum ärgerte es Thorin, wie sie ihn behandelten, als sie ihren Bann von ihm genommen hatten und er wieder zu sich kam. Er nahm sich vor, dass sie kein Wort von Gold oder Juwelen aus ihm herauslocken sollten.
Als er dem König vorgeführt wurde, sah der ihn finster an und stellte ihm viele Fragen. Aber Thorin sagte immer nur eines: dass er am Verhungern sei.
»Warum hast du mit deinen Leuten dreimal versucht, mein Volk während seines Festes anzugreifen?«, fragte der König.
»Wir haben euch nicht angegriffen«, antwortete Thorin; »wir wollten um etwas zu essen bitten, weil wir am Verhungern waren.«
»Wo sind deine Freunde jetzt, und was tun sie?«
»Ich weiß es nicht, aber ich nehme an, sie sind im Wald und haben Hunger.«
»Was wolltet ihr im Wald?«
»Nahrung und Wasser suchen, um nicht zu verhungern.«
»Aber weshalb seid ihr überhaupt in den Wald gekommen?«, fragte der König verärgert.
Da klappte Thorin den Mund zu und sagte kein Wort mehr.
»Na schön!«, sagte der König. »Nehmt ihn mit und verwahrt ihn sicher, so lange, bis er bereit ist, die Wahrheit zu sagen, und wenn es hundert Jahre dauern sollte.«
Dann legten die Elben ihm Fesseln an und sperrten ihn in eine der innersten Kammern, die mit dicken Holztüren verschlossen war, und ließen ihn allein. Sie gaben ihm zu essen und zu trinken, beides reichlich, wenn auch nicht vom Besten. Waldelben waren jedenfalls keine Orks und behandelten Gefangene, auch wenn sie ihre ärgsten Feinde waren, halbwegs anständig. Die einzigen Lebewesen, mit denen sie kein Erbarmen hatten, waren die Riesenspinnen.
Dort also lag der arme Thorin im Kerker des Königs; und nachdem er sich dankbar mit Brot, Fleisch und Wasser gestärkt hatte, begann er zu grübeln, was wohl aus seinen unglücklichen Freunden geworden sein mochte. Es sollte nicht sehr lange dauern, bis er es erfuhr; doch das gehört ins nächste Kapitel und an den Anfang eines neuen Abenteuers, in dem sich der Hobbit wiederum als nützlich erwies.
IX
Fässer unverzollt
Am Tag nach ihrem Kampf mit den Riesenspinnen unternahmen Bilbo und die Zwerge eine letzte verzweifelte Anstrengung, den Ausweg aus dem Wald wiederzufinden, bevor sie dem Hunger und dem Durst erlagen. Sie rafften sich auf und stolperten los in die Richtung, in der acht von den dreizehn, die sie waren, den Pfad vermuteten; ob sie aber recht hatten, erfuhren sie nie. Schon wich das Tageslicht, sofern in diesem Wald davon die Rede sein konnte, wieder der Schwärze der Nacht, als plötzlich rings um sie her viele Fackeln aufflammten wie Hunderte von roten Sternen. Waldelben mit Bogen und Speeren sprangen hinter den Bäumen vor und geboten den Zwergen Halt.
An einen Kampf war nicht zu denken. Selbst wenn die Zwerge nicht in einer solchen Verfassung gewesen wären, dass sie eher froh sein mussten, gefangen genommen zu werden, hätten ihnen die kurzen Messer, ihre einzigen Waffen, nichts gegen die Pfeile der Elben genützt, die einem Vogel bei Nacht ein Auge ausschießen konnten. Also hielten sie einfach an, setzten sich auf den Boden und warteten – alle bis auf Bilbo, der seinen Ring aufstreifte und sich sofort seitwärts in die Büsche schlug. Als die Elben die Gefangenen in einer langen Reihe, einer hinter dem andern, aneinanderfesselten und sie zählten, war der Hobbit längst verschwunden und wurde nicht mitgezählt.
Er war auch nicht zu hören oder zu bemerken, als sie die Gefangenen durch den Wald abführten und er in einigem Abstand hinter ihren letzten Fackeln hertrabte. Allen Zwergen waren die Augen verbunden, aber das wäre kaum nötig gewesen, denn auch Bilbo konnte mit offenen Augen nicht sehen, wo sie hingingen; und wo sie zu Anfang gewesen waren, wusste sowieso keiner von ihnen. Bilbo hatte alle Mühe, mit den Fackeln Schritt zu halten, denn die Elben trieben die Zwerge an, so schnell zu laufen, wie sie es in ihrer Erschöpfung irgend konnten. Der König hatte Eile befohlen. Plötzlich hielten die Fackeln an, und der Hobbit holte sie eben noch ein. Sie standen vor einer Brücke, die vor dem Tor der Königshöhle über den Fluss führte. Das Wasser strömte dunkel und schnell darunter hin, und auf der andern Seite war das große Tor, das sich in der Flanke eines baumbestandenen Steilhangs öffnete. Hohe Buchen wuchsen dort bis herab ans Ufer und streckten ihre Wurzeln in die Strömung.