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Sie wird von einem beinahe unerträglichen Schamgefühl überwältigt, als sie daran denkt, dass sie damals die Geduld mit Benjamin verlor, weil er einfach nicht gehen lernen wollte. Er war zwei Jahre alt und krabbelte immer noch. Sie wussten nicht, dass er Bluter war und in seinen Gliedmaßen Blutgefäße platzten, sobald er sich aufrichtete. Wenn er weinte, schimpfte sie mit ihm und sagte, er sehe aus wie ein Baby, wenn er so krabbele. Benjamin versuchte zu gehen und machte ein paar Schritte, aber die furchtbaren Schmerzen zwangen ihn gleich wieder, sich hinzulegen.

Nachdem bei Benjamin das Willebrand-Jürgens-Syndrom diagnostiziert worden war, hatte Erik sich mit seiner Krankheit befasst, nicht sie. Erik war es gewesen, der nach der Regungslosigkeit der Nacht behutsam Benjamins Glieder hin und her bewegt hatte, um das Risiko innerer Blutungen zu verringern. Erik hatte die komplizierten Spritzen gesetzt, bei denen die Nadel auf keinen Fall in die Muskulatur eindringen und die Spritze nur vorsichtig und langsam unter der Haut entleert werden durfte. Es war eine Technik, die wesentlich schmerzhafter war als eine normale Injektion. In den ersten Jahren presste Benjamin stets das Gesicht gegen den Bauch seines Vaters und weinte still, wenn die Nadel eindrang. Heute frühstückte er weiter, ohne hinzusehen, und reichte Erik bloß seinen Arm.

Das Faktorpräparat, das Benjamins Blut bei der Gerinnung helfen sollte, hieß Haemate. Simone fand, dass dies wie der Name einer griechischen Rachegöttin klang. Es war ein unangenehmes und unzulängliches Medikament, das als gefriergetrocknetes, gelbkörniges Pulver geliefert wurde, ein Pulver, das aufgelöst und vermischt, temperiert und dosiert werden musste, ehe es verabreicht werden konnte. Haemate steigerte die Gefahr eines Blutgerinnsels erheblich, und sie hofften inständig, dass man bald etwas Besseres entwickeln würde. Aber mit Haemate, einer hohen Dosis Desmopressin und Cyklokapron in einem Nasenspray, das vor Nasenschleimhautblutungen schützen sollte, lebte Benjamin relativ sicher.

Sie erinnerte sich noch an den Tag, an dem sie den kleinen laminierten Notfallausweis mit Benjamins Geburtstagsfoto vom Blutgerinnungsnotdienst in Malmö bekommen hatten. Sein lachendes vierjähriges Gesicht unter dem Text: »Ich leide am Willebrand-Jürgens-Syndrom, wenn mir etwas zustößt, rufen Sie bitte sofort unter der Rufnummer 040-33 10 10 den Blutgerinnungsnotdienst an.«

Simone sieht sich in Benjamins Zimmer um, denkt daran, dass es ein wenig traurig gewesen ist, als er das Harry-Potter-Plakat abgehängt und praktisch alle Spielsachen in einen Karton im Keller verstaut hat. Als er Aida kennenlernte, konnte er nicht schnell genug erwachsen werden.

Simone hält inne und überlegt, ob Benjamin vielleicht mit ihr zusammen ist.

Benjamin ist erst vierzehn, Aida siebzehn. Er sagt, dass sie bloß Freunde sind, aber es ist ganz eindeutig so, dass sie seine Freundin ist. Simone fragt sich, ob er sich wohl getraut hat, ihr zu erzählen, dass er Bluter ist. Weiß sie, dass der kleinste Schlag ihn das Leben kosten könnte, wenn er seine Medikamente nicht regelmäßig nimmt?

Seit Benjamin Aida kennt, trägt er sein Handy immer an einem schwarzen Totenschädelband um den Hals. Sie simsen bis weit in die Nacht hinein, und wenn man Benjamin morgens weckt, trägt er das Telefon immer noch um den Hals.

Simone sucht vorsichtig zwischen allen Papieren und Zeitungen auf Benjamins Schreibtisch, öffnet eine Schublade, schiebt ein Buch über den Zweiten Weltkrieg zur Seite und findet einen Zettel mit einem schwarzen Lippenstiftabdruck und einer Telefonnummer. Sie eilt in die Küche, wählt die Nummer, wartet und wirft einen stinkenden Spülschwamm in den Müllbeutel, als sich plötzlich jemand meldet.

Eine schwache, krächzende Stimme und schwere Atemzüge.

»Hallo«, sagt Simone. »Ich bitte um Entschuldigung, falls mein Anruf ungelegen kommt. Ich heiße Simone Bark, ich bin die Mutter von Benjamin. Ich würde gerne wissen, ob …«

Die Stimme, die einer Frau zu gehören scheint, faucht, sie kenne keinen Benjamin, Simone müsse sich verwählt haben.

»Warten Sie bitte«, sagt Simone und versucht, ruhig zu klingen. »Aida und mein Sohn sind oft zusammen, und ich wollte mich erkundigen, ob Sie wissen, wo die beiden sein könnten, ich müsste Benjamin nämlich dringend sprechen.«

»Ten… ten…«

»Ich kann Sie nicht verstehen. Entschuldigen Sie bitte, aber ich höre nicht richtig, was Sie sagen.«

»Ten…sta.«

»Tensta? Aida ist in Tensta?«

»Ja, diese verdammte … Tätowierung.«

Simone glaubt, im Hintergrund regelmäßig zischend einen Sauerstoffapparat arbeiten zu hören.

»Was versuchen Sie mir zu sagen?«, fragt sie flehentlich.

Die Frau murmelt missmutig etwas und legt auf. Simone betrachtet das Telefon und überlegt, ob sie die Frau noch einmal anrufen soll, als ihr schlagartig klar wird, was sie gesagt hat: etwas über Tätowierungen in Tensta. Sie ruft sofort die Auskunft an und erhält die Adresse eines Tattoo-Studios im Einkaufszentrum von Tensta. Simone läuft ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als sie sich vorstellt, dass Benjamin in diesem Moment überredet wird, sich ein Tattoo stechen zu lassen, und sein Blut fließt, ohne gerinnen zu können.

8.

Dienstagvormittag, der achte Dezember

Nachdem er Benjamin in die Schule gebracht hat, denkt Erik auf seinem Weg durch den Krankenhausflur daran, wie dumm es von ihm war, das Tattoo auf Aidas Hals zu kommentieren. In den Augen der beiden hat er sich selbstgefällig und oberlehrerhaft benommen.

Zwei uniformierte Polizeibeamte lassen ihn auf die Station. Vor Josef Eks Zimmer steht bereits Joona Linna und wartet. Als er Erik sieht, lächelt er und winkt, wie kleine Kinder es tun, indem er die Hand öffnet und schließt.

Erik bleibt neben ihm stehen und blickt durch die Tür zu dem Patienten hinein. Ein Beutel mit fast schwarzem Blut hängt über ihm. Sein Zustand hat sich weiter stabilisiert, aber es könnte jeden Moment zu neuen Blutungen in der Leber kommen.

Der Junge liegt auf dem Rücken, sein Mund ist fest geschlossen, der Bauch hebt und senkt sich schnell, und manchmal zucken seine Finger.

Ein neuer Zugang ist in der anderen Armbeuge gelegt worden. Die Krankenschwester bereitet soeben eine Infusion mit Morphium vor. Die Tropfgeschwindigkeit ist ein wenig gedrosselt worden.

»Ich hatte Recht, als ich meinte, dass der Täter auf dem Sportplatz angefangen hat«, sagt Joona. »Als Erstes hat er den Vater, Anders Ek, ermordet, danach ist er zum Haus der Familie gefahren und hat Lisa, die kleine Tochter, getötet, dachte, er hätte auch den Sohn getötet, und brachte am Ende auch die Mutter um.«

»Hat der Pathologe das bestätigt?«

»Ja«, antwortet Joona.

»Ich verstehe.«

»Wenn der Täter also wirklich die Absicht hat, eine ganze Familie auszulöschen«, fährt Joona fort, »dann fehlt nur noch Evelyn, die erwachsene Tochter.«

»Es sei denn, er erfährt, dass der Junge noch lebt«, erwidert Erik.

»Stimmt, aber ihn können wir beschützen.«

»Ja.«

»Wir müssen den Täter finden, bevor es zu spät ist«, sagt Joona. »Ich muss herausbekommen, was der Junge weiß.«

»Ich dagegen muss tun, was für den Patienten am besten ist.«

»Vielleicht ist es ja das Beste für ihn, seine Schwester nicht zu verlieren.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, und ich werde den Patienten selbstverständlich noch einmal untersuchen«, erklärt Erik. »Aber im Grunde bin ich mir schon jetzt ziemlich sicher, dass es für eine Befragung noch viel zu früh ist.«

»Okay«, sagt Joona.

Daniella kommt in einem roten, engen Mantel herein, geht mit schnellen Schritten, erklärt, dass sie es eilig hat, und übergibt ihm eine begonnene Krankenakte.

»Ich glaube, dass der Patient schon recht bald«, erklärt Erik Joona, »also in wenigen Stunden, zumindest so weit bei Bewusstsein sein wird, dass er ansprechbar ist. Aber von diesem Punkt an … Sie müssen das verstehen, wir stehen hier ganz am Anfang eines langen therapeutischen Prozesses. Eine Vernehmung könnte den Zustand des Jungen so dramatisch verschlechtern, dass …«