»Von mir aus auch nach einem Namen oder einem Ort oder einem Zusammenhang.«
»Ich habe keine Ahnung, wie es laufen wird«, sagt Erik und holt tief Luft.
Joona begleitet ihn hinein, setzt sich auf einen Stuhl in der Zimmerecke, streift die Schuhe ab und lehnt sich zurück. Erik dimmt das Licht, zieht einen Stahlhocker heran und setzt sich neben das Bett. Vorsichtig beginnt er, dem Jungen zu erklären, dass er ihn hypnotisieren möchte, weil er ihm helfen will, zu verstehen, was am Vortag geschehen ist.
»Josef, ich werde die ganze Zeit bei dir sitzen«, sagt Erik ruhig. »Es gibt wirklich nichts, wovor du Angst haben musst. Du kannst dich ganz sicher fühlen. Ich bin deinetwegen hier, du sagst nichts, was du nicht sagen willst, und kannst die Hypnose jederzeit selbst beenden.«
Erst jetzt spürt Erik, wie sehr er sich nach diesem Prozess gesehnt hat. Sein Herz schlägt fest und schwer. Er muss versuchen, seinen Eifer im Zaum zu halten. Der Verlauf darf nicht erzwungen, nicht überstürzt werden. Er muss von Ruhe erfüllt sein, muss einsinken und in seinem eigenen sanften Tempo genossen werden.
Es ist leicht, den Jungen zur völligen Entspannung zu führen, sein Körper ruht bereits und scheint sich nach noch mehr Ruhe zu sehnen.
Als Erik den Mund öffnet und mit der Hypnoseinduktion beginnt, ist es, als hätte er niemals aufgehört zu hypnotisieren: Seine Stimme ist eindringlich, sachlich und ruhig, die Worte kommen ihm ganz leicht und selbstverständlich über die Lippen, sie strömen voller monotoner Wärme und in einem betäubenden, fallenden Ton aus ihm heraus.
Augenblicklich spürt er Josefs große Empfänglichkeit. Der Junge scheint sich intuitiv an die Geborgenheit zu klammern, die Erik ihm vermittelt. Sein verletztes Gesicht wird schwerer, die Züge werden weicher, und sein Mund wird schlaffer.
»Josef, wenn du willst, dann … denk an einen Sommertag«, sagt Erik. »Alles ist einfach wunderbar und angenehm. Du liegst auf der Ducht eines kleinen Holzboots, das langsam schaukelt. Das Wasser gluckert, und du schaust zu den kleinen Wolken hinauf, die am blauen Himmel vorüberziehen.«
Der Junge spricht so gut auf die Induktion an, dass Erik sich fragt, ob er den Verlauf lieber ein wenig bremsen sollte. Er weiß, dass schwierige Erlebnisse die Empfindsamkeit während der Hypnose erhöhen können, dass der innere Stress zu einem Motor mit umgekehrter Schubkraft werden kann: Das Abbremsen geschieht unerwartet rasch und die Umdrehungszahl fällt rasend schnell gen null.
»Ich werde jetzt rückwärts zählen, und bei jeder Zahl, die du hörst, wirst du dich etwas mehr entspannen. Du wirst fühlen, dass du von großer Ruhe erfüllt wirst und wie angenehm alles um dich herum ist. Deine Zehen, Knöchel, Waden entspannen sich. Nichts stört dich, alles ist von Ruhe erfüllt. Das Einzige, was du hören musst, ist meine Stimme, sind die Zahlen. Jetzt entspannst du dich noch mehr und wirst noch schwerer, deine Knie, deine Oberschenkel bis zu den Leisten entspannen sich. Du spürst, dass du gleichzeitig ganz sanft und wohltuend sinkst. Alles ist ruhig und still und vollkommen entspannt.«
Erik legt eine Hand auf die Schulter des Jungen. Sein Blick ruht auf Josefs Bauch, und bei jedem Atemzug zählt er weiter herunter. Gelegentlich durchbricht er das logische Muster, setzt den Countdown aber immer weiter fort. Ein Gefühl traumhafter Leichtigkeit und körperlicher Stärke erfüllt Erik während dieses Prozesses. Er zählt und sieht sich gleichzeitig durch sehr helles und sauerstoffreiches Wasser parallel zu einer riesigen Felsformation sinken. Ein Kontinentalgraben, der in enorme Tiefen hinabführt. Das Wasser glitzert von winzigen Luftbläschen. Mit einem Glücksgefühl im Körper schwebt er an der rauen Wand entlang in die Tiefe.
Der Junge weist deutliche Anzeichen hypnotischer Ruhe auf. Wangen und Mund sind vollkommen erschlafft. Erik hat es immer so empfunden, als würden die Gesichter der Patienten breiter, gleichsam flacher. Weniger schön, aber empfindsam und ohne jede Verstellung.
Erik sinkt tiefer, streckt einen Arm aus und berührt die vorüberziehende Felswand. Das helle Wasser changiert langsam zu Rosa.
»Jetzt bist du völlig entspannt«, sagt Erik ruhig. »Und alles ist sehr, sehr angenehm.«
Die Augen des Jungen leuchten zwischen halb geschlossenen Lidern.
»Josef … versuche dich zu erinnern, was gestern passiert ist. Der Tag fing an wie ein ganz normaler Montag, aber am Abend habt ihr Besuch bekommen.«
Der Junge bleibt stumm.
»Erzähl mir, was passiert«, sagt Erik.
Der Junge nickt kaum merklich.
»Sitzt du in deinem Zimmer? Hörst du Musik?«
Der Junge antwortet nicht. Sein Mund bewegt sich fragend, suchend.
»Als du aus der Schule gekommen bist, ist deine Mutter zu Hause gewesen«, sagt Erik.
Der Junge nickt.
»Warum? Weißt du das noch? Liegt es daran, dass Lisa Fieber bekommen hat?«
Der Junge nickt und befeuchtet seine Lippen.
»Was tust du, als du aus der Schule kommst, Josef?«
Der Junge flüstert etwas.
»Ich kann dich nicht hören«, sagt Erik. »Sprich bitte so laut, dass ich dich höre.«
Die Lippen des Jungen bewegen sich, und Erik lehnt sich vor.
»Wie Feuer, genau wie Feuer«, murmelt er. »Ich kneife die Augen zusammen, ich gehe in die Küche, aber da stimmt etwas nicht, es knirscht zwischen den Stühlen, und auf dem Fußboden breitet sich ein leuchtend rotes Feuer aus.«
»Woher kommt das Feuer?«, fragt Erik.
»Ich erinnere mich nicht, vorher ist etwas passiert …«
Er verstummt erneut.
»Geh ein wenig zurück, vor dieses Feuer in der Küche«, sagt Erik.
»Es ist jemand da«, sagt der Junge. »Ich höre jemanden an die Tür klopfen.«
»An die Haustür?«
»Ich weiß es nicht.«
Das Gesicht des Jungen ist plötzlich angespannt, er wimmert unruhig, und die untere Zahnreihe wird in einer seltsamen Grimasse entblößt.
»Keine Sorge«, sagt Erik. »Keine Sorge, Josef, du bist hier sicher, du bist ruhig und spürst keine Unruhe. Du siehst dir nur an, was passiert, du bist nicht dabei, du siehst nur aus sicherer Entfernung zu, es besteht überhaupt kein Grund zur Sorge.«
»Die Füße sind hellblau«, flüstert Josef.
»Was hast du gesagt?«
»Es klopft an die Tür«, sagt der Junge lallend. »Ich mache auf, aber da ist keiner, ich sehe niemanden. Aber das Klopfen geht weiter. Mir wird klar, dass mich jemand ärgern will.«
Der Patient atmet schneller.
»Was passiert jetzt?«, fragt Erik.
»Ich gehe in die Küche und nehme mir ein Brotmesser.«
»Du willst eine Scheibe Brot essen?«
»Aber jetzt fängt das Klopfen wieder an, das Geräusch kommt aus Lisas Zimmer. Die Tür steht einen Spaltbreit offen, und ich sehe, dass ihre Prinzessinnenlampe brennt. Vorsichtig stoße ich mit dem Messer die Tür auf und schaue hinein. Lisa liegt in ihrem Bett. Sie hat die Brille an, aber ihre Augen sind zu und sie atmet keuchend. Ihr Gesicht ist weiß. Arme und Beine sind ganz starr. Dann biegt sie den Kopf nach hinten, sodass ihr Hals ganz gespannt ist, und tritt mit den Füßen gegen das Fußende des Betts. Sie tritt immer schneller und schneller. Ich sage ihr, dass sie aufhören soll, aber sie macht weiter, immer fester. Ich schreie sie an und das Messer sticht schon zu und Mama kommt angelaufen und zerrt an mir und ich drehe mich um und das Messer sticht zu, es schießt nur so aus mir heraus, ich hole neue Messer, ich habe Angst, aufzuhören, ich muss weitermachen, das darf nicht alles gewesen sein, Mama kriecht durch die Küche, und der Fußboden ist ganz rot, ich muss die Messer an allem ausprobieren, an mir selbst, an den Möbeln, den Wänden, ich schlage und steche, und dann werde ich auf einmal müde und lege mich hin. Ich weiß nicht, was passiert, ich habe Schmerzen und bin durstig, kann mich aber nicht bewegen.«
Erik spürt, wie eng er mit dem Jungen in Verbindung steht, tief unten in dem hellen Wasser, ihre Beine bewegen sich sanft, und sein Blick folgt der Felswand, tiefer und tiefer, sie hat kein Ende, das Wasser wird nur immer dunkler und blaugrau und schließlich verlockend schwarz.