»Ich gehe duschen«, sagt er und lehnt sich zurück.
»Wie hieß der Polizist?«, fragt sie undeutlich.
Aber noch ehe er ihr antworten kann, befindet er sich in dem Park am Observatorium. Er gräbt auf dem Spielplatz im Sand und findet einen gelben Stein, so rund wie ein Ei, so groß wie ein Kürbis. Er scharrt mit den Händen und erahnt an seiner Seite eine Reliefform, eine gezackte Zahnreihe. Als er den schweren Stein umdreht, erkennt er, dass es der Schädel eines Dinosauriers ist.
»Du kannst mich mal«, schreit Simone.
Er zuckt zusammen und begreift, dass er eingeschlafen ist und geträumt hat. Die starken Tabletten haben ihn mitten im Gespräch eingeschläfert. Er versucht zu lächeln und begegnet Simones kühlem Blick.
»Sixan? Was ist denn?«
»Hat es wieder angefangen?«, fragt sie.
»Was?«
»Was«, wiederholt sie gereizt. »Wer ist Daniella?«
»Daniella?«
»Du hast es versprochen, Erik, es war ein Versprechen«, sagt sie aufgebracht. »Ich habe mich auf dich verlassen, ich bin so bescheuert gewesen, mich tatsächlich auf dich …«
»Wovon redest du überhaupt?«, unterbricht er sie. »Daniella Richards ist eine Kollegin im Karolinska. Was ist mit ihr?«
»Lüg mich nicht an.«
»Das ist jetzt wirklich ein bisschen absurd«, sagt er lächelnd.
»Findest du das etwa komisch?«, fragt sie. »Manchmal habe ich gedacht … sogar geglaubt, dass ich vergessen kann, was damals passiert ist.«
Erik schläft für ein paar Sekunden ein, hört aber trotzdem, was sie sagt.
»Vielleicht ist es besser, wenn wir uns trennen«, flüstert Simone.
»Zwischen mir und Daniella ist nichts passiert.«
»Das spielt im Grunde auch keine Rolle«, sagt sie müde.
»Tut es nicht? Es spielt keine Rolle? Du willst dich wegen etwas von mir trennen, das ich vor zehn Jahren getan habe?«
»Etwas?«
»Ich war betrunken und …«
»Ich will nichts hören, ich weiß alles, ich … Verdammter Mist! Ich will diese Rolle nicht. Ich bin eigentlich gar nicht eifersüchtig, aber ich bin ein loyaler Mensch und fordere die gleiche Loyalität von dir.«
»Ich habe dich nie wieder betrogen, und ich werde dich nie wieder …«
»Warum beweist du es mir nicht«, unterbricht sie ihn. »Das könnte ich gebrauchen.«
»Du wirst mir wohl einfach vertrauen müssen«, sagt er.
»Ja«, seufzt sie und verlässt das Schlafzimmer mit Kissen und Decke.
Er atmet schwer und weiß, dass er ihr nachgehen und nicht einfach aufgeben sollte, sie zum Bett zurückziehen oder sich auf den Fußboden neben der Bettcouch im Gästezimmer legen sollte, aber der Schlaf ist in diesem Moment so viel stärker. Er hat nicht mehr die Kraft, sich gegen ihn zu wehren. Er sinkt ins Bett zurück, spürt die Dopamine in den Tabletten seinen Körper durchströmen, die genüssliche Entspannung, die sich bis ins Gesicht und in die Zehen- und Fingerspitzen ausbreitet. Der tiefe, chemische Schlaf schließt sich um sein Bewusstsein wie eine mehlige Wolke.
Zwei Stunden später öffnet Erik vorsichtig die Augen in dem bleichen Licht, das gegen die Rollos drückt. Sofort flimmern die Bilder der Nacht vorüber: Simones Vorwürfe und der Junge, der mit Dutzenden schwarzer Messerstiche auf seinem schweißglänzenden Körper vor ihm liegt. Die tiefen Wunden im Nacken, am Hals und am Brustkorb.
Erik denkt an den Kriminalkommissar, der überzeugt zu sein scheint, dass der Täter eine ganze Familie auslöschen wollte. Erst den Vater, danach Mutter, Sohn und Tochter.
Auf dem Nachttisch neben ihm klingelt das Telefon.
Erik steht auf, aber statt an den Apparat zu gehen, zieht er die Vorhänge auf und blinzelt zur gegenüberliegenden Fassade hinüber, wartet einen Moment und versucht, sich zu sammeln. Die Staubstreifen auf den Fensterscheiben sind im Licht der Straßenlaternen deutlich zu sehen.
Simone ist schon zu ihrer Galerie gegangen. Er versteht weder ihre Reaktion, noch warum sie von Daniella gesprochen hat. Er fragt sich, ob es im Grunde vielleicht um etwas ganz anderes geht. Zum Beispiel um die Tabletten. Ihm ist bewusst, dass er nur einen kleinen Schritt von einer schweren Tablettenabhängigkeit entfernt ist. Aber er braucht seinen Schlaf. Die vielen Nachtdienste im Krankenhaus haben bei ihm zu schweren Schlafstörungen geführt. Ohne Tabletten würde ich untergehen, denkt er und streckt sich nach dem Wecker, stößt ihn aber versehentlich auf den Fußboden.
Das Telefon verstummt, schweigt aber nur kurz, bevor es erneut zu klingeln beginnt.
Er überlegt, ob er zu Benjamin hineingehen und sich neben seinen Sohn legen, ihn vorsichtig wecken und fragen soll, ob er etwas geträumt hat.
Erik nimmt das Telefon vom Nachttisch und meldet sich.
»Erik Maria Bark.«
»Hallo, hier ist Daniella Richards.«
»Bist du noch in der Neurologie? Wie spät ist es eigentlich?«
»Viertel nach acht – ich werde allmählich ein bisschen müde.«
»Fahr nach Hause.«
»Von wegen«, sagt Daniella konzentriert. »Du musst zurückkommen. Der Kommissar ist auf dem Weg hierher. Er scheint sich mittlerweile noch sicherer zu sein, dass der Täter auf der Suche nach der älteren Schwester ist. Er sagt, er muss mit dem Jungen sprechen.«
Erik spürt eine plötzliche dunkle Schwere hinter den Augen.
»Das ist keine besonders gute Idee, wenn man bedenkt …«
»Aber was ist mit der Schwester«, unterbricht Daniella ihn. »Ich bin kurz davor, dem Kommissar die Erlaubnis zu geben, Josef zu verhören.«
»Wenn der Patient das deiner Einschätzung nach gut übersteht«, sagt Erik.
»Gut übersteht? Das tut er mit Sicherheit nicht, es ist noch viel zu früh dafür, sein Zustand ist … Er wird erfahren, was mit seiner Familie passiert ist, ohne auch nur im Geringsten darauf vorbereitet zu sein, ohne Schutzmechanismen aufbauen zu können … er könnte psychotisch werden, er …«
»Das musst du beurteilen«, unterbricht Erik sie.
»Ich will die Polizei nicht zu ihm lassen, das ist das eine, aber ich kann mich auch nicht hinsetzen und Däumchen drehen, ich meine, seine Schwester ist mit Sicherheit in Gefahr«, sagt sie.
»Obwohl das bloß eine …«
»Ein Mörder sucht nach seiner älteren Schwester«, unterbricht Daniella ihn mit erhobener Stimme.
»Vermutlich.«
»Entschuldige, ich weiß auch nicht, warum die Sache mich so mitnimmt«, sagt sie. »Vielleicht, weil es noch nicht zu spät ist, weil man tatsächlich etwas tun kann. Das ist selten genug der Fall, aber diesmal könnten wir eine junge Frau retten, bevor sie …«
»Was willst du eigentlich von mir?«, unterbricht Erik sie.
»Du musst herkommen und tun, was du so gut kannst.«
»Wenn es ihm besser geht, kann ich gerne mit dem Jungen darüber reden, was passiert ist.«
»Du sollst herkommen und ihn hypnotisieren«, erwidert sie ernst.
»Nein, kommt nicht in Frage«, sagt er.
»Es ist der einzige Ausweg.«
»Ich kann nicht.«
»Aber es gibt niemanden, der das so gut kann wie du.«
»Ich habe ja nicht einmal die Erlaubnis, im Karolinska Leute zu hypnotisieren.«
»Die besorge ich dir, bevor du hier bist.«
»Aber ich habe versprochen, nie wieder jemanden zu hypnotisieren.«
»Kannst du nicht einfach herkommen?«
Es wird kurz still, und dann fragt Erik: