Golo blickte zum rotglühenden Abendhimmel. Ein Königreich, so groß wie das Reich der Römer zu errichten... Was für ein Plan! Dazu würden ein paar Reiter nicht ausreichen. Obendrein hatte noch niemand Ricchars Maskenritter in der Schlacht erlebt. An den Gefechten im letzten Sommer hatten sie nicht teilgenommen. Man hätte in Worms über sie erzählt, wäre auch nur einer dieser ungewöhnlichen Krieger gesehen worden.
Der junge Ritter zuckte mit den Schultern und wollte zum Festgelage zurückkehren, als er hinter sich einen Schatten zwischen den Säulen verschwinden sah. Die Hand am Dolch lief Golo den Gang hinauf. »Wer dort?«
Die schattenhafte Gestalt hielt sich dicht bei der Mauer und flüchtete in Richtung der Pferdeställe, die unweit des Palastes am Ende des großen Platzes lagen. Wer auch immer ihm gefolgt war, schien ungewöhnlich kleinwüchsig. Vielleicht sogar ein Zwerg.
Golo hatte die Gestalt fast eingeholt, als ein weiterer Schatten zwischen den Säulen erschien und sich ihm in den Weg stellte. Es war der Diener, der ihn und Volker in der letzten Nacht zu ihren Kammern geleitet hatte. Der junge Ritter rannte den Mann fast über den Haufen.
»Laß sie! Ich habe ihr befohlen, dir zu folgen!«
»Was treibt ihr hier für ein Spiel?« keuchte Golo wütend. Noch immer ruhte seine Hand auf dem Griff des Messers in seinem Gürtel.
»Ich habe ihr befohlen, Euch und den Spielmann zu beobachten. Ich mußte Gewißheit über euch haben.«
Golo packte den Kerl bei seinem Wams und drückte ihn gegen die Mauer. »Gewißheit vorüber? Was soll das?«
Mit eisernem Griff schlossen sich die Hände des Dieners um die Arme des jungen Ritters. »Nicht hier! Laßt mich los, Herr. Wir werden vielleicht beobachtet. Ich kann jetzt nicht reden. Kommt eine Stunde nach Sonnenuntergang in das verfallene Römerbad. Ihr müßt der Straße am Ende des Platzes folgen. Haltet Euch dann nach zweihundert Schritt links. Ihr werdet die Ruinen des großen Bauwerks selbst im Dunklen erkennen. Dort werde ich auf Euch warten. Geht dort auf den Innenhof. Im Schatten des dritten Torgewölbes könnt Ihr mich finden. Und kommt ohne den Spielmann, sonst werde ich vor Euch flüchten. Dem Herrn Volker trauen wir nicht.«
»Wer ist wir? Und was soll das ganze Versteckspiel überhaupt?«
Der Diener löste sich aus dem Griff des jungen Ritters. »Nur soviel, gnädiger Herr. Hütet Euch vor Ricchar! Er ist der Versucher!« Bevor er ihn zurückhalten konnte, lief der kleine Mann davon. Ein kühler Wind wehte über den Platz vor dem Palast.
»Der Versucher!« Golo schüttelte den Kopf. Wußte der Diener etwa von dem Angebot, das ihm der Graf gemacht hatte?
Nachdenklich ging der junge Ritter zur Festhalle zurück.
»Laß uns das Mahl verlassen, mein Freund! Ich denke, es ist an der Zeit dir, etwas zu zeigen.« Ricchar hatte sich zu Volker hinübergebeugt und seinen Weinpokal zur Seite gestellt. Dem Spielmann war aufgefallen, daß der Fürst an diesem Abend fast nichts getrunken hatte. Überhaupt ging es auf den Festen der Franken wesentlich gesitteter zu, als er es von Kriegern erwartet hätte. Nicht einer der Männer schien betrunken. Es wurde nicht gegrölt oder lauthals mit nie begangenen Taten geprahlt. Selbst wenn sie feierten, wirkten die Vertrauten Ricchars noch diszipliniert.
»Willst du mich begleiten?« Der junge Fürst sah Volker fragend an.
»Wollen wir noch auf Golo warten?«
»Ich glaube, dein Gefährte hat in Wirklichkeit nur nach einem Vorwand gesucht, das Fest verlassen zu können. Heute werden wir ihn gewiß nicht mehr wiedersehen.«
Der Spielmann nickte. Auch ihm war aufgefallen, daß Golo sich nicht wohl fühlte, doch war ihm unbegreiflich, woran das liegen mochte. Der Bauernsohn konnte Ricchar nicht leiden. Aber das hieß nicht viel. Golo mochte kaum einen Adeligen. Er fand es nicht gerecht, wenn man Macht und Reichtum in die Wiege gelegt bekam, statt sie sich zu verdienen. Volker lächelte. So war der Lauf der Welt. Eines Tages würde auch Golo begreifen, daß sich daran niemals etwas ändern würde. Und war es nicht Gott selbst, der entschied, wer zum Regieren und wer zum Dienen geboren ward?
Ricchar erhob sich von seiner Kline. »In den Ställen warten zwei Pferde auf uns. Wir werden ein Stück aus der Stadt hinausreiten.«
»Und wohin willst du mich bringen? In spätestens einer Stunde ist es stockfinster.«
Der Graf lächelte. »Vielleicht will ich dir den Weg zum Licht weisen.«
Keiner der anderen Gäste erhob sich. Sie wirkten auch nicht verwundert. Volker hatte fast den Eindruck, daß sie alle eingeweiht waren in das, was nun geschehen sollte. Der Spielmann schluckte. Zum ersten Mal, seit er an Ricchars Hof weilte, fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut.
Daß Volker und Ricchar nicht mehr beim Gastmahl weilten, als er zurückkehrte, hatte Golo nicht wirklich überrascht. Auch der junge Ritter zog sich bald auf seine Kammer zurück. Er lag auf seiner Bettstatt und beobachtete durch das schmale Fenster, wie die Finsternis langsam das Abendrot besiegte. Als es so dunkel geworden war, daß er die Möbel in seinem Gemach fast nicht mehr erkennen konnte, erhob er sich von seinem Lager und nahm den braunen Umhang, den er über die Lehne des Stuhls gelegt hatte. Er war eigentlich zu warm für diese Jahreszeit, aber die dunkle Farbe würde Golo in den Straßen der Stadt vor neugierigen Blicken schützen.
Einen Moment lang überlegte der Krieger, ob er sein Kettenhemd anlegen sollte, doch dann entschied er sich gegen die schwere Last. Er ritt schließlich nicht in eine Schlacht, sondern traf sich nur mit einem versponnenen Diener. Der lange Dolch, den er am Gürtel trug, war Schutz genug! So warf er sich den Umhang über die Schultern und verließ die Kammer.
Die Wachen im Palast ließen ihn passieren, ohne Fragen zu stellen. Niemand schien es ungewöhnlich zu finden, daß er im Finstern noch in die Stadt ging. Vielleicht glaubten sie, daß er sich nach irgendeiner billigen Dirne umsehen wollte. Nun, sollten sie ihn ruhig für einen Hurenbock halten...
Ohne Eile überquerte er den weiten Platz vor dem Herrschersitz. Der Wind hatte nachgelassen, und es war drückend schwül. Die Sterne lagen hinter mächtigen Wolkengebirgen verborgen. Vielleicht würde es in der Nacht noch ein Gewitter geben. Er spürte, wie ihm heißer Schweiß den Nacken und die Arme hinabrann. Dieser verfluchte Wollmantel! Er hätte ihn in seiner Kammer lassen sollen. Wahrscheinlich hielten die Palastwachen ihn für verrückt, daß er sich bei dieser Hitze derart vermummt hatte.
Als er das andere Ende des Platzes erreichte, warf Golo einen Blick über die Schulter. Niemand folgte ihm. Dennoch wählte er vorsichtshalber eine andere Straße als jene, die der Diener ihm benannt hatte. Der junge Ritter wollte ganz sichergehen, daß niemand ihm folgte! Schließlich schien sich der Diener vor irgend etwas zu fürchten. Etwas im Palast schien nicht ganz geheuer zu sein. Der Diener hatte von seinem Fürsten gesprochen, als sei Ricchar der Leibhaftige selbst. Der Versucher hatte er ihn genannt... Wenn Golo an das Angebot vom Nachmittag dachte, dann war dieser Titel für Ricchar zugegebenermaßen nicht ganz unangemessen.