Aber was zählte das schon! Das wichtigste war, daß sie diese verfluchte Stadt hinter sich gelassen hatten! Ricchar hatte Volker in der Nacht und noch ein zweites Mal am Morgen besucht. Golo wußte nicht, worüber die beiden gesprochen hatten, doch Volker war offenbar durch nichts von seinem Entschluß abzubringen gewesen, an diesem Morgen aufzubrechen. Was in der vergangen Nacht wohl in der Kammer des Spielmanns geschehen war? Jeder erzählte eine andere Geschichte darüber. Die Wachen und Krieger im Palast waren davon überzeugt, daß ihr Gott Mithras dem Barden ein Zeichen geschickt hatte. In ihren Augen war der Spielmann auserkoren, und es war ihm bestimmt, irgend etwas Ungewöhnliches zu tun. Ganz anders hörte sich die Geschichte an, die Mechthild zu erzählen hatte. Und sie mußte schließlich wissen, was geschehen war. Immerhin war sie dabeigewesen! Sie hatte nur ein kaltes blauweißes Licht gesehen. Eine Kugel, so groß wie ein Menschenkopf, die in das Zimmer geschwebt war. Sie hatte Angst vor dieser ungewöhnlichen Erscheinung gehabt.
Und Volker... Golo schmunzelte. Der Spielmann glaubte, ihm sei der Feuervogel erschienen. Er hatte keine Kugel, sondern einen Vogel mit glühenden Schwingen gesehen. Doch ganz gleich, was auch immer es gewesen sein mochte, es hatte sie aus dem Bann des Ketzerfürsten Ricchar gelöst. Vielleicht war es ja ein Engel, den einer der Heiligen geschickt hatte, um Volker auf den rechten Weg der Tugend zurückzuführen und gegen die Versuchung Satans zu schützen.
Ob sie Ricchar wohl entkommen waren? Das weite Bergland vor ihnen gehörte bis kurz vor die Tore von Treveris dem Gaugrafen. Auch Ricchar wollte in den nächsten Tagen in die Berge reiten, um der Spur des Ebers zu folgen. Hoffentlich entkam ihm der Räuber. Wer immer sich gegen den Ketzer stellte, konnte im Grunde kein schlechter Mensch sein. Golo glaubte noch immer nicht daran, daß der verschwundene Palastdiener von Strauchdieben getötet worden war. Der Mord war auf Befehl Ricchars geschehen!
Wieder blickte Golo zum Himmel. Manchmal fiel es ihm schwer, die Geschichten der Priester zu glauben. Irgendwo dort oben lag das Reich Gottes. Das himmlische Paradies, ein Ort ewiger Glückseligkeit... Doch was tat man dort eine Ewigkeit lang? Die Priester erzählten nie viel darüber, was da oben geschah. Die Geschichten der Heiden waren im Vergleich dazu wesentlich anschaulicher. Den Helden war es bestimmt, mit den Göttern zusammen an einer Tafel zu sitzen und auch weiterhin das Leben von ehrenhaften Kriegern zu führen... Golo schüttelte energisch den Kopf. Was dachte er da nur! Mit solch stummen Zwiegesprächen gefährdete er sein Seelenheil! Bei nächster Gelegenheit sollte er einen Priester zur Beichte aufsuchen. Es war nicht gut, seine Seele mit solchem Schmutz zu besudeln... Doch wie lange mochte es wohl dauern, bis sie einen Christenpriester trafen? In Castra Bonna waren alle Kirchen vernagelt gewesen. Ob Ricchar die Christenpriester wohl auch schon aus den Bergen vertrieben hatte? Wie konnte ein Mann nur ungestraft solches Unrecht tun? Warum wurde dieser ruchlose Versucher nicht einfach von einem Blitz aus heiterem Himmel erschlagen? Oft schon war es Golo so erschienen, daß Gott gegenüber seinen treuesten Anhängern strenger war als gegenüber den Ketzern oder den Kleingeistigen, deren Christentum kaum mehr als ein Lippenbekenntnis war.
Mit jähem Schrecken wurde Golo bewußt, daß seine Gedanken blanke Ketzerei waren. Das mußte das schleichende Gift des Frankenfürsten sein. Seine süßen Worte und seine Lockungen... Sie waren dazu angetan, jedem, der ihm begegnete, die Seele zu vergiften. Warum sah Ricchar nicht aus wie einer der Teufel, von denen die Priester erzählten? Warum stand ihm seine Verruchtheit nicht ins Gesicht geschrieben? Sicher hatte der Versucher selbst den Leib des Grafen aus dem blutbesudelten Lehm der Hölle geschaffen und ihm mit seinem fauligen Atem Leben eingehaucht. Das mußte auch der Grund sein, warum der Eber Ricchar nicht getötete hatte. Die Diener der Finsternis brachten einander nicht um!
Leise begann Golo ein Vaterunser zu beten. Er mußte vorsichtig sein! Die letzten Tage hatten ihn über einen schmalen Grad geführt, und wenn er nicht fest im Glauben war, dann mochte ihm auf dieser Reise Schlimmeres widerfahren, als nur sein Leben zu verlieren.
Blinzelnd erhob sich Volker und sog den Geruch des Feuers ein. Die Pferdedecke lag schwer und klamm auf seinen Schultern. Keinen halben Schritt entfernt schwelte ein kleines Feuer. Jemand hatte ein wenig Reisig in die Glut vom Vorabend geschüttet und darüber kunstvoll dünne Äste aufgeschichtet. Zu seiner Linken lag sein zusammengeknüllter Umhang. Mechthild hatte die kleine Schutzhütte verlassen. Vermutlich suchte sie nach Holz für das Feuer oder ein paar Waldbeeren zum Frühstück.
Gähnend streckte Volker seine steifen Glieder und rutschte ein Stück näher zum Feuer. Die Narbe von dem Pfeil, der ihn letztes Jahr in den Sümpfen Aquitaniens erwischt hatte, schmerzte. Wenn der Rauch und das Feuer erst einmal die Feuchtigkeit aus seinen Kleidern vertrieben hatten, würde es besser werden. Er rieb seine schwieligen Hände über den Flammen und blickte zu Golo. Sein Gefährte hatte im Schlaf seinen Umhang zur Seite gestreift. Der Mund des jungen Ritters stand halb offen, und er atmete schwer. Was er jetzt wohl träumte? Ob es gut war, ihn auf diese Reise mitgenommen zu haben? Am Hof zu Worms fühlte er sich nicht wohl. Die Adligen und Ritter dort duldeten ihn mehr, als daß sie ihn als ihresgleichen akzeptierten. Als ehemaliger Bauernsohn würde er dort immer ein Außenseiter bleiben. Ihm war es allemal lieber, an der Seite Volkers in irgendwelche verrückten Abenteuer zu reiten. Der Spielmann lächelte melancholisch. Dennoch würde er Golo vielleicht bald zurücklassen müssen... und auch das Mädchen. Gestern nacht, als die Kleine schon geschlafen hatte, waren sie auf die Lichtung hinausgegangen und hatten darüber gesprochen, wie es weitergehen sollte, und Golo hatte recht. Es wäre verantwortungslos, Mechthild einem Winter hier in den Bergen auszusetzen.
Wieder blickte Volker zu seinem schlafenden Gefährten. Vielleicht sollte er sich eines Nachts einfach davonschleichen. Er konnte sich auf Golo verlassen. Der junge Ritter würde sich um das Mädchen kümmern. Gewiß würde er nicht eher ruhen, bis er ein gutes Heim für die Kleine gefunden hatte. Auch wenn er gestern noch darüber geflucht hatte, daß sie Mechthild überhaupt mitgenommen hatten, war sich der Spielmann sicher, daß Golo sie nicht in Stich lassen würde. Das Grollen und sein brummiges Wesen waren halt seine Art, seinen Sorgen Ausdruck zu geben.
Volker seufzte. Heute mußte er noch keine Entscheidung treffen. Er würde noch ein paar Tage warten. Langsam wurde ihm wärmer. Sie hatten Glück gehabt, daß sie gestern abend noch kurz vor Einbruch der Dämmerung die verlassene Köhlerhütte entdeckt hatten. Sie lag keine zehn Schritt von der Straße unter ein paar hohe Kiefern geduckt am Rand eines weiten Kahlschlags. Es war nur eine schlichte Unterkunft mit Wänden aus ineinandergeflochtenen Zweigen und einem Dach aus dicken Grassoden, doch es war allemal besser, hier zu schlafen, als völlig ungeschützt unter einem Baum zu liegen. Die Hütte hatte nur drei Wände. Die ganze Vorderseite war offen. Man sah auf die Lichtung, die die Köhler in den Wald geschlagen hatten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch war der Wald schon in jenes graublaue Zwielicht getaucht, das den kommenden Tag ankündigt. Zerrissene Nebelschleier lagen über der Lichtung und wogten zwischen den schwarzen Wurzelstümpfen. Überall aus den Bäumen und Büschen ringsherum erklang das Zirpen und Zwitschern von Vögeln. Der Spielmann grinste. Jetzt fehlten nur noch eine schöne Jungfer und ein munter plätscherndes Bächlein, dann hätte man alle Bestandteile des locus amoenus aus der Theorie der Minnedichtung beisammen. Er hatte nie sehr viel von den ehernen Regeln der Dichtkunst gehalten. Ließ Schönheit sich in Gesetzmäßigkeiten fassen? Nein! Solche Regeln waren etwas für jene Dichter, denen wahre Kunst auf immer verschlossen blieb...