Vorsichtig bettete der Spielmann den tödlich Verletzten auf den weichen Waldboden. Das Gesicht des Sachsen war eine Grimasse des Schmerzes. Seine Lippen zitterten, als wolle er etwas sagen. Volker beugte sich vor, um ihn verstehen zu können.
»Aelfre...«
»Das ist dein Name, nicht wahr? Ich werde ein Lied von dir singen, Aelfre, damit die alten Götter von deiner Tapferkeit hören, und beten werde ich für dich, damit deine Seele nicht in das Reich Satans eingeht. Hörst du mich... Und deinen Mörder will ich finden. Er soll diesen Winter nicht überleben, der Eber! Wenn Ricchar ihn nicht stellt, dann werde ich ihn finden. Er soll nicht noch länger seine blutige Spur durch die Wälder ziehen...«
Der Blick des Sachsen war auf das dunkle Blätterdach gerichtet, das mit den ersten Strahlen der Morgensonne zu einem düster schönen Mosaik aus Licht und Schatten geworden war. Einen Herzschlag lang hatte Volker das Gefühl, als forme sich in dem Blätterdach das riesige Gesicht eines bärtigen Mannes. Dann fuhr ein Windstoß durch die Äste der Buchen, und das Trugbild war verschwunden.
Plötzlich war dem Barden kalt. Ein Trugbild! Die alten Götter gab es nicht wirklich... Allein der Christengott regierte in dieser Welt.
Der Ausdruck des Schmerzes war vom Gesicht des Sachsen gewichen. Seine Züge hatten sich entspannt, und um seine Lippen spielte sogar der Hauch eines Lächelns. Hatte auch Aelfre das bärtige Gesicht gesehen?
Volker legte dem jungen Krieger vorsichtig die Hand auf die Brust. Das Herz des Sachsen schlug nicht mehr. Er war als Heide gestorben, und seine Seele würde nun den langen Weg der Verdammnis antreten. Ob es wohl jemals jemanden gegeben hatte, der versuchte, Aelfres Seelenheil zu retten? Jemanden, der von der Güte des Christengottes zu ihm gesprochen hatte. Volker neigte sein Haupt und faltete die Hände zum Gebet.
5. KAPITEL
Drei Tage lang hatte ihr Weg sie in die Berge geführt, und mit ihnen war der Regen nach Westen gezogen. Kaum einer Menschenseele waren sie unterwegs begegnet. Da waren ein Köhler und seine Familie, ein Waldbauer und ein Jäger gewesen und ein paar Reisende... Keiner von ihnen hatte vom Feuervogel gehört. Zumindest behaupteten sie das. Die Leute in den Bergen waren ein verschlossener Menschenschlag. Sie blieben den Gefährten gegenüber mißtrauisch, und Golo war sich sicher, selbst wenn der Feuervogel noch in der Nacht zuvor auf dem Giebel ihrer armseligen Hütten gesessen hätte, daß sie es Fremden gegenüber leugnen würden. Doch vielleicht gab es die Kreatur ja auch wirklich nicht...
Nach dem Buchenhain mit den Gepfählten waren sie auf keine weiteren Spuren des Ebers gestoßen. Offenbar hatten sich der Räuber und seine Gefolgschaft in irgendein unzugängliches Tal zurückgezogen. Noch immer lastete dieser schreckliche Morgen auf ihnen. Mechthild hatte seitdem kein Wort mehr gesprochen. Es war ganz so, als habe der Anblick der geschundenen Toten ihr die Zunge im Mund verdorren lassen. Volker hatte sich alle Mühe gegeben, sie den Schrecken vergessen zu lassen. Er hatte für sie gesungen und ihr stundenlang Geschichten erzählt, doch nichts vermochte ihr Schweigen zu brechen. Und so hatte sich schließlich die Stille wie ein böser Fluch auf die Gruppe gelegt. Jeder hing seinen Gedanken nach, und es waren allein der monotone Hufschlag auf der gepflasterten Straße und der tausendstimmige Gesang der Waldvögel zu hören.
Vor ihnen auf einer langgezogenen Hügelkuppe erhob sich eine kleine Stadt, Icorigium. Sie war von einer graubraunen Mauer umgeben, der man deutlich die Narben noch nicht allzulange zurückliegender Belagerungen ansah. An zwei Stellen, wo Breschen in die Mauer geschlagen worden waren, hatte man hölzerne Palisaden errichtet. Massive halbrunde Türme verstärkten in Abständen von vielleicht zwanzig Schritt die Verteidigungsanlagen. Der Köhler, bei dem sie die letzte Nacht verbrachten, hatte ein wenig über Icorigium erzählt. Es war eine Stadt der Schmiede und Bergleute. Eisenminen hatten die Siedlung reich gemacht, und Graf Ricchar ließ hier einen großen Teil der Waffen und Rüstungen für seine Krieger schmieden.
Dunkle Rauchfahnen stiegen hinter den hohen Mauern auf und wurden vom rauhen Wind zerpflückt. Auf den Hügelflanken schimmerten golden die Stoppeln abgeernteter Weizenfelder. Golo stutzte. Irgend etwas stimmte hier nicht. Er drehte sich im Sattel um und ließ den Blick über die dunklen Waldränder und die abgeholzten Hügelflanken schweifen. Keine Menschenseele zeigte sich. Und das, obwohl die Stadt Hunderte von Einwohnern haben mußte.
Unter dem Torbogen am Ende der Straße blinkte fahles Sonnenlicht auf poliertem Stahl. Der junge Ritter schirmte die Augen ab. Das Stadttor war geöffnet. Zwei Wachen standen dort.
Mit leichtem Schenkeldruck brachte der junge Ritter seine Stute näher zu Volkers Grauem hinüber.
»Wollen wir dort wirklich hinauf? Ich hab’ kein gutes Gefühl bei der Sache.«
Der Spielmann zuckte mit den Schultern. »Dort wird es warme Quartiere geben... Außerdem werden wir in der Stadt sicherlich jemanden finden, der den Feuervogel gesehen... oder zumindest von ihm gehört hat.«
Golo räusperte sich. Einen Augenblick lang überlegte er, ob es möglich wäre, seinen Kameraden doch noch zu überzeugen. Dann verwarf er den Gedanken. Volker war ein Dickkopf. Er hatte beschlossen, in Icorigium Quartier zu nehmen, und er würde es tun...
Sie hatten das Tor jetzt fast erreicht. Zwei fränkische Krieger in schlichten grauen Tuniken standen dort Wache. Ihre schweren eisernen Helme lagen neben ihnen auf dem Boden. Im Toreingang lehnten rote Rundschilde. Einer der Männer baute sich mitten unter dem Torbogen auf und versperrte den Weg, während der andere seinen Speer fortlegte und ihnen entgegenkam.
»Woher des Weges, Fremde?«
Volker hob die Rechte zum Gruß. »Wir kommen aus Castra Bonna und waren dort Gäste des Grafen Ricchar. Unsere Reise führt uns nach Treveris. Wir wollen hier einige Tage Quartier nehmen.«
Der Wächter runzelte die Stirn. »Ihr solltet besser nicht zu lange bleiben. Bald wird der Regen kommen. Dann ist es keine Freude, über die Berge zu müssen. Aber das soll nicht meine Sorge sein. Ihr habt für jedes Bein, das unsere Stadt betritt ein Kupferstück Torzoll zu entrichten, Herr.«
Der Spielmann griff nach dem Geldbeutel an seinem Gürtel, öffnete ihn und warf dem Soldaten zwei Silberstücke zu. Golo biß grimmig die Zähne aufeinander. Volker war zu großzügig! Dieser Torzoll war Wucher, und dem Franken auch noch mehr zu geben, als er verlangte... Die Adligen wußten einfach nicht mit Geld umzugehen! Wenn Volker so weitermachte, wäre ihre Reisekasse noch vor Mitte des Winters dahin.
Der Wachposten unter dem Torbogen trat beiseite und ließ sie passieren. »Reitet die Straße gerade hinauf bis zum Marktplatz«, rief der Soldat ihnen nach. »Dort hält unser Magister Equitum Gericht. Wenn Ihr Euch beeilt, könnt Ihr sicher noch der Urteilsvollstreckung beiwohnen.«
Volker nickte beiläufig. »Wo finde ich eine Schenke, in der wir Nachtquartier nehmen können.«
»Am Marktplatz. Jedenfalls wenn Ihr eine Unterkunft sucht, die Eurem Rang entspricht, Herr. Vielleicht könnt Ihr auch im Praetorium untergebracht werden, wenn Ihr den Magister Equitum fragt. Als Gäste des Grafen Ricchar hättet Ihr ein Anrecht darauf.«
Golo zuckte bei den letzten Worten zusammen. Er verspürte nicht die geringste Lust, schon wieder die Gastfreundschaft von Franken zu genießen. Golo wartete, bis sie außer Hörweite der Wachen waren. »Wir werden doch nicht bei diesem fränkischen Statthalter absteigen, oder?«
Der Spielmann drehte sich im Sattel um und grinste. »Du möchtest also lieber Geld für unsere Unterkunft ausgeben? Du drehst doch sonst jedes Kupferstück zweimal um... Nun, wir sollten versuchen, dem Statthalter aus dem Weg zu gehen. Sonst würden wir womöglich noch eingeladen, und dann gäbe es kein Zurück mehr.«