6. KAPITEL
Belliesa war viele Meilen lang der Straße nach Castra Bonna gefolgt, bis sie vor einem Abzweig, der in die Wälder führte, ihr Pferd zügelte. Es hatte angefangen zu regnen. Die Wipfel der Berge waren in den Wolken verborgen, und graue Dunstschleier zogen die dunklen Wälder an den Bergflanken herab. Volker war naß bis auf die Knochen. Fast wünschte er, er hätte die Bardin ihrem Schicksal überlassen, dann säße er jetzt in einem trockenen, warmen Gasthaus bei einem gepflegten Mittagsmahl. Er lenkte sein Pferd an Belliesas Seite. Seit der Flucht aus der Stadt hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden... Und es gab eine Menge zu bereden!
»Was denkst du eigentlich...«
Die Bardin schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. »Es ist besser, wenn wir die Hauptstraße verlassen. Wollt ihr mit mir reiten? Ich kenne die Berge recht gut. Folgt mir, und zur Abenddämmerung werden wir in einer tiefen, trockenen Höhle sitzen.«
»Ich werde...«
»Du brauchst mir nicht zu danken. Ich stehe in deiner Schuld, Volker. Ohne dich wäre ich jetzt tot.« Belliesa warf dem Spielmann einen koketten Blick zu. »Ich werde dich und deine Reisegefährten vor den Franken schützen und euch sicher bis nach Treveris bringen. Ich kenne jeden Pfad hier in den Wäldern.«
»Ich bedarf nicht der Hilfe einer Frau!« platzte Volker heraus. »Ich brauche auch kein Weib, das mir sagt, was ich tun soll. Es wäre sehr entgegenkommend von dir, wenn du aufhören würdest, mich und meine Gefährten wie deine Untergebenen zu behandeln. Wir sind sehr wohl in der Lage, selbst zu entscheiden, wohin uns unser Weg führen soll. Und ich denke nicht daran, nach Treveris zu reiten, um...«
»Du erlaubst dir doch auch, für den Ritter und das Mädchen Entscheidungen zu treffen. Ich habe nicht den Eindruck, daß du die beiden fragst, wohin sie eigentlich wollen.«
Volker konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Golo grinste. Verräter! »Ich... Also... Ich zwinge niemanden, mit mir zu reiten.«
»Das tue ich auch nicht«, entgegnete die Bardin kühl. »Wenn ich die Dinge richtig sehe, habt ihr im Moment folgende Möglichkeiten. Entweder ihr reitet die Römerstraße weiter nach Osten. Dann kommt ihr irgendwann in Castra Bonna an, es sei denn, die Häscher von Heliodromus erwischen euch vorher. Dafür spricht einiges, denn sie unterhalten einen Botendienst entlang der Römerstraße, und ich bin sicher, daß bereits jetzt eine Nachricht an den Gaugrafen unterwegs ist. Die zweite Möglichkeit besteht darin, der Straße nach Westen zu folgen. Dann kommt ihr auf direktem Wege zurück nach Icorigium. Wenn ihr dem Wort des Offiziers dort glaubt, könnt ihr die Stadt heute noch ungeschoren passieren...« Belliesa zuckte mit den Schultern. »Ich für meinen Teil würde mich darauf lieber nicht verlassen wollen... Aber ihr müßt wissen, was ihr tut. Natürlich könnt ihr auch einen der kleinen Wege nehmen, die von der Römerstraße abzweigen. Viele enden in verlassenen Dörfern oder bei gebrandschatzten Gutshöfen. Wenn ihr euch nicht auskennt, werdet ihr euch hoffnungslos verirren. Die vierte Möglichkeit besteht darin, einfach das Vernünftigste zu tun und mir zu folgen. Wie gesagt, ich kenne die Gegend und kann euch, wenn wir nicht allzu lange hier verweilen, um verletzte Eitelkeiten zu pflegen, ein trockenes Nachtquartier versprechen.«
Golo räusperte sich leise. »Wenn ich vielleicht...«
»Nein!« Es kostete Volker alle Mühe, nicht einfach loszuschreien. Was ging hier vor sich? Noch nie hatte Golo seine Autorität in Frage gestellt! Doch nun wollte er sich offenbar auf die Seite der Bardin schlagen! Es war höchste Zeit, das Ruder wieder in die Hand zu bekommen. »Wir werden Richtung Treveris reiten und nehmen dein großzügiges Angebot, uns als Führerin zu dienen, gerne an, Belliesa. Unser Weg hätte uns ohnehin dorthin geführt.«
Die Bardin musterte ihn scharf. »Von Dienen kann hier nicht die Rede sein. Ich habe dich um nichts gebeten, Ritter. Es war allein deine Entscheidung, Heliodromus herauszufordern. Ich habe mich für das bedankt, was du unaufgefordert für mich getan hast. Damit ist die Angelegenheit für mich erledigt.«
»Du hattest zwar einen Knebel im Mund, aber deine Blinke waren beredter als tausend Worte, kleine Bardin...«
»Offenbar sprechen wir dann wohl nicht dieselbe Sprache, Spielmann.« Belliesa wendete ihr Pferd und trieb es den steilen Waldweg hinan.
Volker sah ihr schweigend nach.
»Wäre es vielleicht nicht doch klüger, wenn wir ihr folgen würden?«
»Findest du ihr Verhalten in Ordnung, Golo?«
Der junge Ritter wich Volkers Blicken aus. »Sie hat sicher eine Menge durchgemacht... Wir können uns morgen ja immer noch von ihr trennen.«
»Du hast recht. Wir sollten ihr Gelegenheit geben, sich von ihrem Schrecken zu erholen. Dann wird sie sicher umgänglicher werden. Gott allein mag wissen, was die Franken ihr angetan haben. Wenn wir nicht auf sie aufpassen, wird ihr vielleicht noch etwas zustoßen.«
Golo brummte etwas Unverständliches. Dann folgten die beiden Ritter und Mechthild der Bardin.
Prüfend tastete Golo über die abgestorbenen Äste, die unter dem Brombeergestrüpp lagen. Sie waren ein wenig feucht, aber doch noch trocken genug, um als Brennholz für das Lagerfeuer zu dienen. Verfluchter Regen! Es würde nicht mehr lange hell sein, und er hatte erst einen Arm voll Reisig zur Höhle hochgetragen. Das reichte bei weitem nicht aus, um ein Feuer zu entfachen, an dem sie alle ihre Kleider trocknen konnten. Nach längstens zwei Stunden wäre alles aufgebraucht und dann... Golo schauderte es bei dem Gedanken, in halbnassen Gewändern in der kühlen Höhle zu übernachten. Der Sommer war schnell vorübergegangen. Gerade eine Woche war es her, daß er über die Hitze unten am Fluß geflucht hatte. Und jetzt... Seit sie Castra Bonna verlassen hatten, war das Wetter immer schlechter geworden. Kein Tag verging, an dem es nicht ein paar Stunden geregnet hätte, und wenn die Sonne einmal durch die Wolken brach, dann hatten ihre Strahlen kaum die Kraft, die klammen Kleider wieder zu trocknen.
Mit Schrecken dachte Golo an die Geschichten, die man sich über den Winter in den Bergen erzählte. Manchmal wurden die Häuser bis zum Giebel eingeschneit, so daß man ein Loch ins Dach brechen mußte, um nach draußen zu gelangen. Und jetzt noch diese Sache mit den Franken. In keiner Stadt und keinem Weiler in den Bergen würden sie sich noch blicken lassen können. Wahrscheinlich würde auch Graf Ricchar nicht eher ruhen, bis er sie beide gefaßt hatte. Das klügste wäre es, sich von der Bardin auf verborgenen Wegen bis nach Treveris bringen zu lassen. Dort herrschten die Burgunden, und sie waren in Sicherheit. Golo schnaubte resignierend. Wenn sie tatsächlich in die Stadt ritten, dann wäre es das erste Mal, daß Volker sich entschied, das Klügste zu tun. Er sollte besser nicht damit rechnen... Golo hob das Reisigbündel auf, um als nächstes in dem Tannengehölz hinter den Brombeerbüschen nach trockenen Ästen zu suchen.
»Herr...«
Erschrocken fuhr der junge Ritter herum. Mechthild stand hinter ihm. Er hatte sie nicht kommen hören. Sie mußte wie ein Wiesel über die Lichtung geschlichen sein.
»Mach das nicht noch mal. Du hättest mich fast zu Tode erschreckt.«
»Ich... Entschuldigt. Ich wollte Euch nur auf Wiedersehen sagen, Herr.«
Golo schaute sie verblüfft an. Es waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete. »Du kannst ja reden, Kleine.«
Sie blickte verlegen zur Seite. »Ich werde jetzt gehen, Herr.«
»Wohin willst du denn? Hat Volker dich zum Wasserholen geschickt?«
Mechthild schüttelte den Kopf. »Ich suche... den Eber.«