»Nun, den Umständen entsprechend, war sein Preis angemessen. Ich habe ein gutes Stück Silber bekommen.« Die Bardin strich mit flüchtiger Geste über zwei pralle Geldkatzen, die an ihrem Gürtel hingen. »Außerdem hat er uns reichlich Proviant mitgebracht. Geräucherte Aale und Schinken, frische Dauerwürste, Salz, Hirse und auch etwas Wein. Alles ist gut verpackt und wird dem Regen widerstehen. Wir können uns nicht beklagen.«
Claudius war zu den Pferden getreten, und Golo beobachtete mißbilligend, wie der Kerl seiner Stute über die Nüstern strich. Sie schnaubte leise. Fast sah es aus, als habe sie schon begriffen, daß dieser zwielichtige Roßtäuscher ihr neuer Herr sein würde. Der junge Ritter fragte sich, woher Belliesa solche Halunken wie Claudius und seine Gefolgsleute kannte. Keiner der Männer, die mit dem hünenhaften Römer gekommen waren, sah vertrauenerweckender als ihr Anführer aus.
Nachdem er alle Pferde kurz gemustert hatte, wandte sich Claudius wieder zu ihnen um. »Gute Ware, meine kleine Nachtigall. Sie sind ein wenig erschöpft, aber sonst in guter Verfassung.« Er hob seine riesenhafte Pranke und streckte sie Belliesa entgegen. »Was mich angeht, ist der Handel perfekt.«
Die Bardin schlug ein. »Es ist immer wieder ein Freude, mit dir Geschäfte zu machen. Leider bleibt keine Zeit, länger zu verweilen. Du weißt ja, daß wir uns von den Pferden trennen, weil wir gewisse Schwierigkeiten haben.«
Golo schluckte. Hatte Belliesa diesem Schurken etwa erzählt, daß ihnen die Franken im Nacken saßen? Wie konnte sie Claudius so sehr vertrauen? Wahrscheinlich würde er sie schon in der nächsten Stunde an die Garnison in der Stadt verraten.
Die Gefährten des Pferdehändlers überreichten ihnen die schweren Tuchsäcke mit den Lebensmitteln, und sie trennten sich ohne ein weiteres Wort. Mit langen Schritten eilte die Bardin zwischen den dunklen Bäumen den Berghang hinauf, so daß der junge Ritter Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
»Warum hast du ihm gesagt, daß wir vor den Franken flüchten?« fragte Golo, als die anderen außer Hörweite waren.
»Weil Claudius nicht dumm ist! Wer trennt sich schon von seinen Pferden und reist weitab von allen Wegen, wenn er nicht einen guten Grund dazu hat? Es wäre töricht gewesen, ihm etwas vorzumachen. Außerdem weiß er auch, daß Ricchar ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt hat.«
»Und was macht dich so sicher, daß er uns nicht verraten wird?«
Die Bardin drehte sich halb zu Golo um und blickte ihn ernst an. »Vertrau mir! Er kann nicht! Mehr kann ich dir dazu jetzt noch nicht sagen.«
Nach zwei weiteren Regentagen war das Wetter endlich besser geworden. Seit sie sich von den Pferden getrennt hatten, waren ihnen keine fränkischen Verfolger mehr aufgefallen. Sie bewegten sich weitab aller Siedlungen durch die Berge. Hier schien der Winter näher als in der Ebene des großen Flusses. Das Laub vieler Bäume schimmerte schon in Rot und Gold, ganz wie ihre Kettenhemden, die nach dem Regen der letzten Tage von Rost überzogen waren. Sie hatten am Ende eines langen Windbruchs ihr Lager unter ein paar umgestürzten Bäumen aufgeschlagen, die eine natürliche Höhle bildeten. Die Gefährten wollten den Morgen noch hier bleiben, um sich von den Strapazen der letzten Tage zu erholen. Der Marsch durch die Berge hatte sehr an ihren Kräften gezehrt. Kettenhemd, Helm, Schild und Schwert allein waren schon schwer genug, dazu kamen noch die schweren Packtaschen der Pferde und der Proviant. Abends, wenn Volker diese Last ablegte und sie in ein feuchtes Versteck gekrochen waren, hatte er sich leicht wie ein Vogel gefühlt. Wenn sie von ein paar Waldläufern aufgespürt würden, wäre jeder Fluchtversuch sinnlos. Ein Greis könnte schneller laufen als sie unter der Last von Rüstung und Gepäck.
Aber warum solch trüben Gedanken nachhängen? So, wie die Dinge standen, hatten sie es geschafft. Ihre Spur war verwischt, und für Ricchar waren sie irgendwo in den Bergen verschwunden.
Der Spielmann blickte zu Golo herüber. Der junge Ritter hockte vor einer länglichen Feuergrube und drehte, leise vor sich hinsummend, vier prächtige fette Waldhühner, die er auf einen hölzernen Spieß geschoben hatte. Neben ihm in der Glut standen zwei kleine eiserne Töpfchen, in denen eine Sauce aus wilden Brombeeren und eine Suppe aus Wurzeln und Wildzwiebeln köchelten. Hinter dem Feuer kauerte Mechthild und zerschnitt auf einem flachen Stein einige Kräuter, die sie gesammelt hatte. Volker leckte sich die Lippen. Das Mahl zum Weihnachtsfest an der Tafel König Gunthers war nicht verlockender gewesen als die Köstlichkeiten, die Golo dort zubereitete. Es war gut, mit ihm zu reisen, dachte Volker schmunzelnd. Er selbst hätte bestenfalls ein paar halbverbrannte Vögel zustande gebracht. Kochen war nie seine Sache gewesen.
Mechthild stand kurz auf und wendete mit einem langen Stock zwei Brotfladen, die in der Glut der Feuergrube lagen. Sie warf Golo einen kurzen Blick zu und machte sich dann wieder daran, ihre Kräuter zu zerkleinern. Ob sie in Golo so etwas wie einen großen Bruder sah? Ihr Verhältnis zu dem jungen Ritter hatte sich in den letzten Tagen drastisch geändert. Golo war so verrückt, ihr das Schwertkämpfen beizubringen... Einem kleinen Mädchen, das kaum die Kraft hatte, ein Schwert zu halten! Täglich übten sie mit zwei Holzstöcken, die sie mit Kaninchenfell gepolstert hatten. Was für ein Unsinn! Volker wurde nicht schlau aus Mechthild. Ihm gegenüber verhielt sie sich kühler und zurückhaltender als früher. Selbst mit Golo, dem sie offenbar vertraute, sprach sie kaum. Wenn sie an einem Tag zehn Worte über die Lippen brachte, dann war das viel. Auch lächelte oder lachte sie nie. Und doch schien es etwas zu geben, das sie mit Golo in einer Art und Weise verband, daß Volker sich als Störenfried fühlte, wenn er mit den beiden allein war.
Es würde noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis die Waldhühner gar waren. Zeit genug, um noch etwas den Berg hinaufzuwandern und die beiden allein zu lassen. Auch Belliesa war irgendwo weiter oben am Berg. Sie war schon vor über einer Stunde gegangen, angeblich um noch Beeren für ihr Mahl zu suchen.
Volker stieg über die umgestürzten Bäume hinweg und erklomm den steilen Abhang hinter ihrem Lager. Er erreichte einen Hain aus hohen, dunklen Tannen und schlenderte ziellos zwischen den Bäumen umher. Düster brütete er darüber, ob er wohl jemals den Feuervogel finden würde. Er war sich sicher, daß Belliesa etwas über den verwunschenen Vogel wußte. Volker dachte an ihr Amulett mit den beiden flammend roten Federn. Sie hatte es geschafft, dem Feuervogel zu begegnen! Warum die Bardin wohl nach ihm gesucht hatte? In all den Tagen, die sie nun schon gemeinsam reisten, war es ihm nicht geglückt, ihr dieses Geheimnis zu entlocken. Obwohl er sich alle Mühe gab, widerstand sie seinem Charme, auch wenn ihr seine Komplimente offenbar nicht unangenehm waren. Selten hatte er eine Frau getroffen, die so unnahbar schien wie Belliesa, doch gerade das reizte ihn! Gestern abend hatte er in Gedanken ein Gedicht über ihre Schönheit begonnen...
Ärgerlich trat Volker gegen einen morschen Ast, der halb aus dem Boden ragte. Er sollte sie einfach ignorieren! Sie könnte ihn von seinem Weg abbringen! Ob auch sie eine Prüfung war, genauso wie die Begegnung mit Ricchar? Was würde geschehen, wenn er sich von ihrem Zauber gefangennehmen ließ? Würde ihm noch einmal der Feuervogel erscheinen, um ihn auf seinen Weg zurückzuführen und...
Er hielt inne. Irgendwo hinter den Bäumen erklang eine kristallklare Stimme, die ein Lied in einer ihm unbekannten Sprache sang. Mit solcher Eindringlichkeit ertönte die fremde Stimme, daß es ihm schien, daß alle Laute des Waldes verstummten. Halb erschrocken blickte er sich suchend um. Ein Stück vor ihm wurde der Boden felsiger, und dünner Nebel sickerte zwischen den schwarzen Tannenstämmen hindurch. Dort irgendwo mußte sich die Sängerin verbergen. Mit aller Vorsicht darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, das die Stimme vielleicht verstummen lassen mochte, schlich er näher. Seine Haut kribbelte vor Erregung über das, was er hörte, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Er ahnte, wem die Unbekannte ihr Lied sang. Sie schenkte es dem Bergland, der wilden Natur, die sich mit diesem goldenen Herbsttag vom Sommer verabschiedete. Der Gesang kam aus ihrem Herzen, die Musik aus dem Innersten ihrer Seele, und sie entließ ihn in die Luft wie einen Schwarm schillernder Vögel. Auch wenn diese Stimme ihm fremd und unirdisch erschien, wußte er, wer dort sang...