Der Nebel wurde dichter, und Volker erreichte ein kleines Felssims, das sich steil über die Bergflanke hinausreckte. Eine warme Quelle brach zwischen den Felsen hervor, und die Steinmetze eines längst vergessenen Volkes hatten ein Becken in den weichen Sandstein geschlagen, in dem sich das Wasser sammelte. Es war nicht sehr groß. Vielleicht zwei Schritt lang und anderthalb breit. Es war aber tief genug, um darin im Sitzen ein Bad zu nehmen. Der Wind, der vom Tal heraufkam, drückte den Dunst, der von dem heißen Wasser aufstieg, gegen die Steilwand und trieb ihn in den Tannenwald, der die verborgene Quelle vor neugierigen Blicken schützte. Aus der Felswand neben dem Becken war ein kleiner Schrein herausgeschlagen, der drei sitzende Frauenfiguren zeigte.
Volker verharrte wie gebannt am Ende des Tannenhains, bis ein Windstoß den Dunst über dem Becken zerriß. Jetzt erst sah er die ordentlich gefalteten Kleider neben dem Schrein. Eine weiße Tunika, Beinlinge, ein rotes Ledermieder...
Ganz am Ende der Klippe stand Belliesa in ihren langen schwarzen Umhang gehüllt. Sie blickte auf das Tal hinab und sang. Volker mußte an die Geschichten denken, die antike Dichter von den Sirenen erzählten. Von wunderschönen Frauen, deren Gesang kein Mann zu widerstehen vermochte und die doch jeden, der sich mit ihnen einließ, ins Unglück stürzten. Der Wind spielte mit dem langen roten Haar der Bardin. Der Spielmann stand wie versteinert. Ob sie wußte, daß er ihr lauschte? Wenn ja, dann verriet sie es nicht durch die kleinste Geste.
Gerne wäre er näher zu ihr getreten, doch so, als stünde er unter einem Zauberbann, vermochte er sich nicht von der Stelle zu bewegen, ja er wagte kaum zu atmen. Die Melodie änderte sich jetzt. Die Stimme der Sängerin wurde melancholisch, und auch wenn er kein Wort von diesem fremden Lied verstand, verspürte der Spielmann einen süßen Schmerz in seiner Brust.
Plötzlich beendete Belliesa ihren Gesang und drehte sich zu ihm um. Einen Moment lang schien sie überrascht. Dann wies sie ins Tal hinab. »Sie haben uns doch noch aufgespürt! Ich hätte nicht gedacht, daß sie sich hierher wagen... Dort unten kommen Krieger ins Tal.«
Der Bann war gebrochen. Volker trat auf die Klippe und blickte über die bewaldeten Berghänge. Dann sah auch er, was Belliesa alarmiert hatte. Zwischen den Bäumen, noch etwas mehr als eine halbe Meile vom Windbruch entfernt, funkelte Sonnenlicht auf poliertem Metall. Wer auch immer dort anrückte, bewegte sich geradewegs auf ihr Lager zu.
»Kennst du ein sicheres Versteck?«
Die Bardin schüttelte langsam den Kopf. »Das hängt davon ab, wer dort kommt. Wenn sie Hunde dabei haben, werden sie uns auf jeden Fall finden.«
»Ich laufe zu den anderen. Komme nach und hole Mechthild. Ich werde mit Golo versuchen, die Bewaffneten aufzuhalten... Dann werdet wenigstens ihr beide entkommen.«
»Aber du...«
Volker wandte sich um und lief in den Tannenhain. Er konnte sich jetzt nicht mit langen Reden aufhalten. Die Zeit würde schon jetzt kaum noch reichen, um seine Rüstung anzulegen, bevor die Bewaffneten den Lagerplatz erreichten.
8. KAPITEL
Wer auch immer dort kommen mochte, er haßte ihn! Wütend blickte Golo auf die Reste der Feuerstelle. Volker hatte die Glut mit der Suppe und der Himbeersauce gelöscht und dann noch einen Schlauch voll Wasser darüber gegossen. Daneben lagen die knusprig braunen Waldhühner im Gras. Sie waren fast gar gewesen! Über dieser Reise mußte ein Fluch liegen! Das wäre das erste halbwegs vernünftige Essen gewesen, seit sie Castra Bonna verlassen hatten.
Weiter unten am Windbruch ertönte das Heulen von Hunden. Der junge Ritter faßte seine Streitaxt fester. Wenn es ernst wurde, kämpfte er lieber mit dieser Waffe. Sie war langsamer als ein Schwert, aber wo er mit der Axt einmal richtig traf, stand meistens auch ein Gegner weniger. Er hatte diese Art zu kämpfen bei den Normannen im Poitou gelernt. So wie sie benutzte er auch einen langgezogenen tropfenförmigen Schild, der ihn vom Schienbein bis zum Kinn schützte. Beim Reiten war der riesige Schild zwar recht unhandlich, doch jetzt, im Fußkampf, würde er ihm gute Dienste leisten.
Gemeinsam mit Volker hatte sich Golo bis zu den übereinanderliegenden Baumstämmen ganz am Ende des Windbruchs zurückgezogen, so daß ihr Rücken gegen Angriffe geschützt war. Mechthild und Belliesa waren über die Baumpallisade davongeklettert. Die Bardin hatte versprochen, das Mädchen in Sicherheit zu bringen. Unruhig musterte der junge Ritter die Waldränder entlang des Windbruchs. Sie würden ihre Verfolger eine ganze Weile aufhalten müssen, wenn sie sicher sein wollten, daß die beiden Frauen entkamen.
Das Heulen der Hunde klang jetzt schon sehr nahe. Ob die Franken etwa versuchten, in ihren Rücken zu gelangen? Er warf Volker einen ängstlichen Blick zu.
»Ganz ruhig. Es sind Leichtbewaffnete. Sie werden einen schweren Stand gegen uns haben und...« Der Spielmann verstummte. Ihre Verfolger waren nur fünfzig Schritt entfernt aus dem Wald getreten. Es waren acht Krieger, die vier große, graue Wolfshunde an langen Lederleinen mit sich führten. Als die Tiere sie erblickten, bäumten sie sich wild kläffend auf. Golo schluckte! Die Zähne der Bestien erschienen ihm so lang wie kleine Dolche.
Die Krieger waren alle gleich gekleidet. Sie trugen braune Hosen, die an den Waden mit Lederriemen umwickelt waren, dazu lange schwarze Tuniken, die an den Ärmeln und am Hals breite rotweiße Borten schmückten. Soweit Golo erkennen konnte, waren die Männer mit Schwertern oder langen Messern bewaffnet, und jeder von ihnen trug eine kurzstielige Francisca, eine Wurfaxt, in seinem Gürtel. Alle Krieger hatten eiserne Helme, und mit Ausnahme der Hundeführer waren sie mit Rundschilden gewappnet, die einen roten Stierkopf auf weißem Grund zeigten. Ohne Zweifel waren es Männer Ricchars. Golo kannte keinen anderen Fürsten, der solchen Aufwand trieb, um seine Krieger gleich auszurüsten und zu kleiden.
Die Hundeführer nahmen jetzt die Leinen kurz, bereit, die Wolfshunde jeden Moment loszulassen. Einer der Krieger trat ein Stück vor und hob die Rechte zum Gruß.
»Wenn Ihr Euch jetzt ergebt, Herr Volker, muß es kein Blutvergießen geben. Man sagt, daß Ihr ein Freund des Grafen seid. Vielleicht wird unser Herr Euch begnadigen. Es ist offensichtlich, daß Euch die Zauberin in ihren Bann geschlagen hat. Ihr Schicksal ist besiegelt, laßt Euch nicht von Ihr in Euer Verderben ziehen, Herr!«
Der Spielmann lachte lauthals. »Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für dich! Mich dünkt, daß ich immer noch unter dem Bann der Bardin stehe... Mein Kopf sagt mir, es wäre klug, sich dir zu ergeben, doch mein Herz heißt dies einen schändlichen Verrat. Jeder, der mich kennt, - und insbesondere die Damen - wissen, daß ich ein Mann bin, der stets nur auf sein Herz hört. Es wird also darauf hinauslaufen, daß ich dich und die Deinen töte, wenn du angreifst!«
Der Franke schüttelte den Kopf. »Seid Ihr närrisch, Herr? Wir sind acht und...«
»Ganz recht, mein Freund. Ihr seid nur acht! Vielleicht sollte ich meinem Freund verbieten, an meiner Seite zu kämpfen, damit das Verhältnis nicht zu sehr zu deinen Ungunsten ist.«