Einer der Hunde sprang ihn von der Seite an. Knirschend drangen die langen Fänge der Bestie durch seinen Kettenpanzer, aber nicht tief genug, um ihn ernstlich zu verletzen. Er versetzte dem Tier einen Tritt, doch der Wolfshund ließ nicht mehr los. Wild knurrend zerrte er an Golos Waffenarm. Derart in seiner Bewegung behindert, konnte er keinen Axthieb gegen den Hund führen.
»Mithras!« schrie irgend jemand neben ihm. Ein schwerer Schlag gegen den Schild brachte den jungen Krieger aus dem Gleichgewicht. Wieder zerrte der Hund an seinem Arm. Golo strauchelte. Ein Tritt riß seinen Schild zur Seite. Der Burgunde schlug auf den Rücken. Neben ihm heulte der Wolfshund auf. Die Bestie hatte ihn losgelassen, und im nächsten Augenblick spürte er den Druck der mächtigen Pfoten des Untiers auf der Brust. Die Welt schien nur noch aus langen, weißen Reißzähnen zu bestehen, von denen Geifer tropfte. Die tödlichen Fänge senkten sich hinab zu seiner Kehle. Golo schloß die Augen. Es war vorbei. Mochte die Jungfrau Maria ihm gnädig sein!
Etwas Schweres fiel auf seine Brust. Golo hielt noch immer die Augen geschlossen. In sein Schicksal ergeben, wartete er darauf, den heißen Atem der Bestie auf seiner Kehle zu spüren.
»Schickt diese fränkischen Bastarde alle zu ihrem Stiergott!« tönte eine dunkle Stimme über die Lichtung.
Blinzelnd schlug Golo die Augen auf. Auf seiner Brust lag der Kadaver des Wolfshundes. Ein Pfeilschaft ragte schräg aus dem Hals der Bestie.
»Heilige Mutter Gottes! Ich werde dir hundert Kerzen weihen, wenn ich jemals wieder im Münster zu Worms stehen werde.« Golo blieb noch einen Augenblick liegen und murmelte leise ein Ave Maria, dann rollte er den Hund zur Seite und richtete sich stöhnend auf.
»Schaut euch das an! Der Berserker lebt ja immer noch«, erklang hinter ihm die fremde Stimme.
Noch halb benommen drehte Golo sich um. Überall auf der Lichtung waren Männer mit langen Bögen zu sehen. Es mußten mindestens ein Dutzend sein. Sie trugen Kleidung aus grober selbstgesponnener Wolle, Lederwämse und Stiefel aus weicher Tierhaut, die vorn mit Lederschnüren zusammengehalten wurden. Von ihren Schultern hingen Köcher voller Pfeile, und in ihren Gürteln steckten lange Dolche oder Kurzschwerter. Die meisten der Krieger waren groß und hager. Gestählt von einem Leben in der Wildnis. Nur ihr Wortführer, der Mann mit der dunklen Stimme, hob sich auffällig von ihnen ab. Er war klein und gedrungen, sein Gesicht von roten Pockennarben entstellt.
Neben dem Narbengesicht kniete ein Krieger über dem Leichnam des Anführers der Franken. Vergebens bemühte sich der Kerl, dem Toten einen dünnen silbernen Ring vom Finger zu ziehen. Ihre Retter waren Leichenfledderer! In was für Gesellschaft waren sie jetzt nur geraten!
Der Plünderer zückte leise fluchend ein Messer und schnitt dem Toten den Finger ab. Golo preßte die Lippen zusammen. Er sollte besser nichts dazu sagen! Immerhin hatten die Männer ihm das Leben gerettet!
»Na, der Berserker ist wohl ein wenig zart besaitet«, höhnte der gedrungene Kerl.
Golo blickte hilfesuchend zu Volker herüber. Der Spielmann lehnte erschöpft gegen die umgestürzten Baumstämme. Zu seinen Füßen lagen drei tote Franken. Der Burgunde trug immer noch seinen geschlossenen Topfhelm. Golo stutzte. Normalerweise nahm der Ritter den schweren Helm sofort nach dem Kampf ab. Irgend etwas stimmte hier nicht...
»Na, wie heißt du denn, Berserker?« Der gedrungene Bogenschütze war jetzt an die Seite des jungen Ritters getreten. »Selten habe ich einen Mann mit solcher Wut kämpfen sehen, wie du es eben getan hast.«
»Golo. Ich bin Ritter im Gefolge des Königs Gunther von Burgund.«
Der Narbige runzelte die Stirn. »Golo? Ein Burgunde. Was macht ihr beiden hier, so weit von Treveris entfernt?« Er drehte sich zu Volker um. »Und du da hinten, was ist dein Name!«
»Ich bin ein fahrender Ritter.«
»Das sehe ich selbst. Ich will wissen, wie du heißt! Nimm deinen Helm ab. Ich mache mir nur selten die Mühe, jemandem das Leben zu retten. Ich will wenigstens wissen, wie du aussiehst. Wenn die Franken sich nicht erdreistet hätten, hier in meinen Bergen Jagd auf euch zu machen, hätte ich keinen Finger gerührt.«
»Ein Gelübde verbietet es mir, den Helm abzunehmen, bis ich in Santiago de Compostella eine Kerze zu Ehren des heiligen Jacob angezündet habe.«
»So ein Unsinn! Du mußt den Helm ja wohl auch abnehmen, wenn du essen oder trinken willst. Du wirst dein Gesicht doch nicht etwa vor deinem Lebensretter verbergen und mich damit beleidigen wollen.«
»Manchmal ist Unwissenheit ein Segen, Eber!«
Golo zuckte zusammen. Er jetzt begriff er, wer dort vor ihnen stand! Ihr Retter war der blutdürstige Räuberhauptmann. Sie waren vom Regen in die Traufe gekommen!
Der Eber lachte schallend. »Wie ich sehe, hast du schon von meinem ruhmreichen Namen gehört. Nun will ich auch wissen, wer du bist. Herunter mit dem Helm, oder ich laß dich niederschießen wie einen Hasen und schau mir dann dein Gesicht an.«
Volker löste den Kinnriemen und hob dann mit beiden Händen den schweren Topfhelm vom Kopf. Einige Herzschläge herrschte beklemmende Stille.
»Du!« Der Eber machte einen Schritt in Volkers Richtung. »Du bist doch der Kerl, der an der Seite des ketzerischen Grafen gekämpft hat.«
Volker lächelte breit. »Ich habe dir doch gesagt, daß Wissen einen nicht immer glücklicher macht.«
»Du Bastard bist mir doch in die Scheune nachgelaufen, um dir meinen Kopf zu holen.«
Der Spielmann nickte. »Richtig. Und ich muß sagen, es tut mir aufrichtig leid, daß wir beide uns dort verfehlt haben.«
»Nun, das können wir ja jetzt nachholen.«
Golo konnte es nicht fassen. Kaum waren sie einer Gefahr entronnen, brachte sie der Spielmann in den nächsten Schlamassel. Es war schon schlimm genug, daß der Eber ihn wiedererkannt hatte, aber hätte er nicht wenigstens auf dieses Duell verzichten können! Man konnte den Eindruck haben, daß Volker an seinem Leben nichts mehr gelegen war. Unauffällig blickte Golo sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sollte der Spielmann allein sterben!
Doch sie saßen in der Falle. Jeder Versuch einer Flucht war aussichtslos. Golo wußte, daß er den Bogenschützen niemals davonlaufen könnte. Inzwischen verfolgten sie zwar alle gespannt den Streit zwischen ihrem Anführer und Volker, doch wenn er versuchte, die Lichtung zu verlassen, dann würde ihnen das kaum entgehen. Golo fluchte leise. Warum nur hatte ihn das Schicksal an diesen verrückten Barden gekettet.
Der Spielmann blickte zu den toten Franken zu seinen Füßen und grinste dann wieder zum Eber herüber. »Gegen nur einen wie dich zu kämpfen ist gegen meine Ritterehre! Zu gering wäre deine Aussicht auf Erfolg, um den Kampf gerecht nennen zu können. Ich werde dir mit meinem Gefährten zeigen, wie gut ich das Schwert zu führen verstehe, damit du Gelegenheit hast, es dir noch einmal zu überlegen, ob du wirklich gegen mich antreten willst. Immerhin hast du meinem Freund Golo das Leben gerettet, und dafür stehe ich in deiner Schuld. Mit verbundenen Augen werde ich gegen den Recken kämpfen und dir zeigen, daß ich selbst blind einen Schwertkampf zu gewinnen vermag. Golo, bring mir ein Tuch, damit ich mir die Augen verbinden kann!«
Golo mußte sich beherrschen, damit man ihm die Erleichterung nicht allzu deutlich ansah. An seinem Freund war ein wahrer Schmierenkomödiant verlorengegangen! Hundertmal und öfter hatten sie den Kampf mit den verbundenen Augen geübt. Die Reihenfolge seiner Angriffe war genau festgelegt, und Volker gab ihm durch unauffällige Gesten, wie ein Federn in den Knien oder ein scheinbar nervöses Zucken mit den Fingern jeweils den Einsatz für seine neuen Attacken. Dem unbedachten Beobachter aber blieb dies verborgen. Für jeden, der es nicht besser wußte, mußte es so aussehen, als könne der Spielmann mit verbundenen Augen genauso sicher kämpfen wie ein Sehender. Selbst Angriffe in seinen Rücken wehrte er mit spektakulären Paraden ab. Bislang hatten sie noch jeden, dem sie diesen Schaukampf vorführten, damit zutiefst beeindruckt.