»Du glaubst doch wohl nicht, daß ich mich durch Zauberwerk narren lassen werde!« grollte der Eber. »Du wirst dir nicht mit dem Tuch, das dir dein Freund bringt, die Augen verbinden. Wahrscheinlich ist es durch Hexerei für deine Augen durchsichtig gemacht. Nimm das hier stattdessen.« Der Räuber zog sich einen Schal aus fleckigem, braunem Tuch vom Hals.
Volker blieb gelassen. »Dein Mißtrauen kränkt mich. Ein vollkommener Schwertkämpfer hat solche Betrügereien nicht nötig. Aber wie du willst... Komm her und verbinde mir selbst die Augen, damit du sicher sein kannst, daß alles mit rechten Dingen zugeht.«
Golo legte seinen Schild zur Seite und zog sein Schwert. Vorsichtig tastete er nach der Wunde über seiner Hüfte. Die Verletzung blutete nicht mehr. Wahrscheinlich war es nur ein leichter Schnitt und nichts Ernstes. Müde streckte er seine schmerzenden Glieder. Zum Glück würde der Kampf mit Volker nicht sehr lange dauern. Der Spielmann war niedergekniet und ließ sich vom Eber die Augenbinde anlegen. Als dies geschehen war, erhob er sich und streckte die Rechte ein wenig affektiert in Golos Richtung. »Man führe mich zum Kampfplatz!«
»Das wird nicht notwendig sein, du Geck.« Der Eber lächelte grausam. »Warum sollte ich zusehen, wie dein Kamerad dir den Kopf abschlägt, wenn ich dieses Vergnügen genausogut selbst auskosten kann.« Der Räuber zog sein Schwert und einen breiten Dolch.
»Das ist gegen die Vereinbarung!« rief Golo empört und wollte sich zwischen die beiden stellen, als er von den Spießgesellen des Ebers gepackt wurde.
»Hatten wir eine Vereinbarung?« höhnte der Räuber. »Ich lasse mir von euch beiden doch nichts vormachen!« Der Eber hob seine Waffen und wandte sich wieder Volker zu. »Bist du bereit zu deinem letzten Spiel, Kerl?«
»Ich hoffe, daß ich dich nicht verletzen werde, mein Freund. Wenn doch ein Unglück geschieht, solltest du mir zugute halten, daß ich die Augen verbunden hatte und daß es dein eigener Wunsch war, dich in Gefahr zu begeben. Bevor wir nun beginnen uns abzuschlachten, möchte ich dir gerne einen kleinen Handel vorschlagen. Wenn ich gewinne, schenkst du mir und meinem Freund das Leben, sollte ich aber verlieren, überlasse ich dir meinen Kopf, auf den Graf Ricchar eine ansehnliche Summe Goldes ausgesetzt hat.«
Golo konnte nicht fassen, wie gelassen Volker auftrat. War das Mut oder war Volker nur vollkommen verrückt geworden?
»Genug der Worte!« Der Eber machte überraschend einen Satz nach vorne und zielte mit seinem Schwert auf Volkers Brust. Der Burgunde trat leicht nach hinten. Klirrend glitt die Klinge über sein Kettenhemd. Diesmal hatte er noch Glück gehabt. Tänzelnd bewegte er sich zur Seite. Nicht einen Lidschlag lang blieb er stehen. Er war also doch nervös, dachte Golo. Spielerisch warf Volker sein Schwert von der Rechten in die Linke und wieder zurück. Der Eber versuchte, mit ein paar raschen Schritten in die Flanke des Ritters zu gelangen, doch Volker drehte sich mit dem Räuber mit.
»Auch wenn du dich windest wie ein Aal, wird das am Ausgang unseres kleinen Kampfes nichts ändern, Ritter!« Wieder sprang der Eber vor und führte einen Hieb, der auf die Brust des Recken zielte. Mit einer ungelenken Parade blockte Volker die Waffe ab. Der Eber versuchte mit dem Dolch in seiner Linken dem Spielmann ins Bein zu stechen, doch Volker drehte sich zur Seite weg und verpaßte seinem Gegner noch einen Stoß mit dem Ellenbogen.
»Bringen wir es zu Ende!« Der Ritter hob das Schwert mit beiden Händen und schlug nach dem Kopf des Räubers. Mit gekreuzten Klingen parierte der Eber den Schlag. Kreischend traf Metall auf Metall. Die Wucht des Hiebes ließ den Räuber in die Knie gehen. Der Eber rollte sich über die Schulter ab und versuchte außer Reichweite des blinden Ritters zu gelangen.
Golo folgte dem Kampf mit angehaltenem Atem. Für einen Strauchdieb war der Eber ein ausgezeichneter Schwertkämpfer.
Volker drehte suchend seinen Kopf von rechts nach links. Sein Gegner war jetzt wieder auf den Beinen, verharrte jedoch regungslos, um sich nicht durch ein Geräusch zu verraten. Unsicher trat der Spielmann einen Schritt vorwärts. Vorsichtig tastete sein Fuß über den Boden, der mit dem dürren Astwerk der gestürzten Bäume bedeckt war. Dann erst verlagerte der Ritter langsam sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
Der Eber hatte einen dürren Ast aufgehoben. Golo ahnte, was der Räuber plante. Er wollte seinen Freund durch einen Ruf warnen, doch der Kerl, der ihn gepackt hielt, verstärkte seinen Griff. »Ein Laut und ich schneide dir die Kehle durch«, zischte der Strauchdieb leise.
Der Eber holte weit aus und schleuderte den Ast quer über den Kampfplatz, so daß er ein paar Schritt hinter Volker zu Boden fiel. Sofort fuhr der Spielmann herum. Im selben Augenblick stürmte der Räuber auf Volker zu, seine beiden Waffen gesenkt und vorgestreckt, so wie ein Eber, der sein Opfer auf seinen mörderischen Hauern aufspießen wollte.
Volker wirbelte erneut herum. Wie hatte er wissen können, was in seinem Rücken geschah? Die Rechte am Griff, hielt er mit der Linken die Klinge seiner Waffe umklammert und führte sein Schwert nun wie einen Kampfstab. Aus der Drehung schlug er die Waffen des Ebers zur Seite, zuckte zurück und versetzte seinem Gegner einen Stoß mit dem Schwertknauf in den Magen. Stöhnend ging der Räuber in die Knie. Im selben Moment traf ihn ein mit der flachen Seite geführter Schlag vor den Kopf, und er fiel wie ein Sack zu Boden.
Ungläubig starrte Golo auf den Kampfplatz. Wie im Namen aller Heiligen hatte Volker das gemacht? Wie konnte ein Blinder gegen einen Schwertkämpfer wie den Eber bestehen? Das mußte ein Wunder sein! Es gab keine andere Erklärung! Voller Inbrunst begann der junge Ritter ein Dankgebet aufzusagen. Gott selbst hatte sich ihnen gnädig gezeigt!
Volker hatte sich inzwischen die Augenbinde heruntergezogen. Zwei der Männer des Ebers waren zu ihrem niedergestreckten Anführer gelaufen und knieten neben ihm. Keiner der Räuber wagte es, dem Spielmann direkt ins Gesicht zu sehen. Mit einer selbstsicheren Gelassenheit, die man wohl nur erlangen konnte, wenn man von Kindesbeinen an als Adliger erzogen wurde, trat der Burgunde auf Golo zu.
Der junge Ritter verneigte sich ehrfürchtig. »Ich muß gestehen, daß ich oft an Euch gezweifelt habe, Herr Volker, und Euch auch manchmal für keinen guten Christenmenschen gehalten habe. Vergebt mir! Jeder konnte sehen, daß die Hand Gottes selbst Euer Schwert führte und...«
Der Spielmann hob die Hand. »Genug, mein Freund.« Er grinste. »Es wäre mir übrigens lieber, wenn du wieder ganz normal mit mir reden würdest und...«
»Aber Ihr seid ein Heiliger! Kein normaler Sterblicher hätte mit verbundenen Augen...«
»Laßt mich mit meinem Freund allein, oder eure finsteren Seelen werden bis ans Ende aller Zeiten im Fegefeuer schmoren.«
Volker warf den beiden Strauchdieben, die Golo festhielten, einen Blick zu, der den jungen Ritter an das Mosesbild im Münster zum Worms denken ließ. Nur wer von Gottes Kraft durchdrungen war, konnte solch heiligen Zorn in seinen Augen lodern lassen!
Die beiden Räuber machten sich davon und gesellten sich zu ihren Kumpanen, die sich nun um den niedergestreckten Eber versammelten.
Plötzlich war aller Ernst aus Volkers Gesicht gewichen. Er zog den schmuddeligen Schal von seinem Hals und bohrte den kleinen Finger seiner Rechten durch ein winziges Loch. »So sieht dein Wunder aus, mein Freund, und jetzt hör bitte auf, mich zu behandeln, als stünde ein leibhaftiger Jünger Jesu vor dir!«
Fassungslos starrte der junge Ritter auf das Loch im Schal. Er konnte nicht glauben, daß das, was sich gerade ereignet hatte, kein Wunder gewesen sein sollte. »Das ist kein Zufall. Gott hat es so gefügt. Es war sein Wille, daß du diesen Sünder in die Hölle geschickt hast, und daß er...«