Der Offizier gab ihnen einen Wink, und die kleine Gruppe betrat die Stadt. Nach der Finsternis vor der Stadt war Golo vom Licht unter dem Mauerbogen geblendet. Hinter sich hörte er das schwere Tor in den Angeln knirschen. Der Eingang zur Stadt der Schmiede war damit wieder verschlossen. Jetzt, wo sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er, wie viele Fackeln hinter dem Tor brannten! Der Spitzel des Ebers hatte gelogen, oder aber er war ein Trottel. Der Mann hatte behauptet, daß die Wachen eine Stunde vor Sonnenuntergang abgelöst würden. Nach seinen Angaben bestand die Torwache auch lediglich aus drei oder vier Mann... Hier waren allerdings deutlich mehr als zehn Krieger versammelt. Jeder zweite von ihnen hielt eine Fackel in der Hand.
Golo wurden die Knie weich. Ob man sie vielleicht verraten hatte? Der Spitzel wäre jetzt ein reicher Mann, wenn er beschlossen hatte, das Kopfgeld einzukassieren, das auf sie ausgesetzt war. Mit dumpfem Poltern schloß sich das Stadttor. Der junge Ritter warf einen kurzen Blick über die Schulter. Zwei Krieger legten einen massiven Eichenbalken vor die mächtigen Torflügel. Sie saßen fest!
Volker stand noch immer neben dem Offizier. Die beiden besprachen etwas, doch Golo konnte nicht verstehen, worum es ging. Verstohlen musterte er die Krieger ringsherum. Fast die Hälfte der Franken trug Kettenhemden. Sie alle waren mit langen Schwertern bewaffnet. Neben dem Eingang zum Torhaus lehnten ein paar Speere und Schilde. Die meisten Männer gafften unverhohlen zum Eber. In ihren Blicken mischten sich Feindseligkeit und Bewunderung. Sie verhielten sich, als stünden sie einem gefährlichen Fabeltier gegenüber. Einer der Männer verpaßte dem Räuber einen Stoß mit dem stumpfen Ende seines Speeres, so als wolle er sich davon überzeugen, daß der Mann vor ihm wirklich aus Fleisch und Blut sei. Der Eber fuhr herum und funkelte den Krieger wütend an, doch sagte er nichts.
»Achtung!« ertönte plötzlich die schrille Stimme des Offiziers. »Torwache zu mir! Nehmt den Gefangenen in eure Mitte.« Der Anführer nickte einem Krieger in einer kostbar bestickten Tunika zu. »Geron, ich übergebe dir hiermit das Kommando über das Südtor.«
Der Angesprochene salutierte kurz, während sich der Offizier jetzt Golo zuwandte. »Du und deine Männer, ihr bleibt hier beim Tor. Ihr könnt auch zur Schenke dort drüben gehen, aber bleibt in der Nähe für den Fall, daß der Statthalter euch sehen will, um auch euch zu diesem glücklichen Fang zu beglückwünschen. Mit dem Eber in unseren Händen werden endlich wieder Ruhe und Frieden zurückkehren.«
Golo verneigte sich. Dann sah er dem Trupp Krieger nach, der mit Volker und dem Eber die Straße hinuntermarschierte. Sechs Mann waren beim Tor zurückgeblieben. Und sie waren nur zu dritt, um die Wachen auszuschalten.
Volkers Plan war gründlich schiefgelaufen! Der Spielmann war davon ausgegangen, daß sie die Torwachen einfach überrumpeln würden, dann Verstärkung in die Stadt holten und das Spiel am Tor der Garnison noch einmal wiederholen würden. Und jetzt... Volker war ein Adeliger. Ihm hatte man beigebracht, wie man Kriege führte und Städte eroberte. Und Golo... Als Sohn eines Unfreien hatte er gelernt, wie man Felder bestellte oder wie man ein Schwein schlachtete und ausweidete. Von Kriegsführung hatte er keine Ahnung.
Der junge Ritter hatte den Eindruck, daß der wachhabende Offizier vom Tor schon mißtrauisch zu ihm herüberstarrte. Also winkte er die beiden Gefährten des Ebers zu sich, die genauso verloren wie er selbst am Tor standen und ihren beiden Anführern nachstarrten. »Laßt uns einen trinken! Zum Morgengrauen schon werden unsere Geldkatzen schwer von rotem Gold sein. Das will gefeiert werden!«
Wenn er erst einmal einen großen Humpen Bier intus hätte, würde er wieder klarer denken können, überlegte Golo. Und nach dem zweiten Humpen hätten sie sicherlich einen Plan. Zu dritt die sechs Männer am Stadttor zu überrumpeln, mochte ihnen ja vielleicht noch gelingen... Aber was war mit der Garnison? Da sie keine Gefangenen mehr vorzeigen konnten, gäbe es für die Wachen auch keinen Grund, sie in die Festung hineinzulassen. Und ohne Leitern oder einen Rammbock würden sie das Tor niemals stürmen können.
Golo stieß die Tür zur Schenke auf und fluchte leise, dann bestellte er lautstark drei Bier und blickte sich nach einem ruhigen Tisch um. Er mußte jetzt nachdenken! Der Duft von Bratenfleisch stieg ihm in die Nase.
Etwas zu essen wäre auch nicht schlecht. Ein voller Bauch würde beim Denken sicher nicht schaden...
»Ich hätte niemals auf dich hören sollen, Ritter!« fluchte der Eber leise.
»Still!« zischte Volker. »Noch ahnen sie wenigstens nicht, was hier vor sich geht.« Er blickte zu den beiden Kriegern, die ein paar Schritt hinter ihnen neben der Eingangstür stehengeblieben waren. Sie befanden sich jetzt innerhalb des Praetoriums im Arbeitszimmer des Statthalters. Der große Raum wurde von einem mächtigen Tisch beherrscht, auf dem eine Landkarte sowie ein paar Schriftrollen und eine Wachstafel mit einem Satz hölzerner Griffel lagen. Eine vierarmige Öllampe tauchte den Tisch in freundliches gelbes Licht. Die Wände aber blieben weiterhin im Schatten, so daß man nur undeutlich die rissigen Fresken erkennen konnte. Sie stammten noch aus der Zeit, als die Römer die Herren des Landes gewesen waren, wie man unschwer an den Rüstungen der Krieger erkennen konnte. Auf der linken Seite sah man siegreiche römische Soldaten einen Haufen Barbaren niedermachen. Auf der anderen Seite war eine lange Reihe von Tributbringern abgebildet. Der frühere Kommandant dieser Stadt hatte seinen Gästen wohl demonstrieren wollen, was es hieß, sich gegen die Herrschaft Roms aufzulehnen.
Zwei Diener mit einem Feuerbecken traten ein und stellten ihre Last neben dem Arbeitstisch ab. Dankbar trat Volker an die Schale mit den glühenden Kohlen und wärmte sich. Es war elend kalt geworden in den letzten Tagen. Wolken hatten die Berge hinter grauen Schleiern verborgen, und immer wieder hatte es eisige Schauer gegeben. Wie lange es wohl dauern mochte, bis der erste Schnee fiel?
»Hast du einen neuen Plan, Ritter?« Der Eber war ebenfalls an das Feuerbecken getreten. Den Rücken zum Spielmann gewandt streckte er seine Hände der Glut entgegen.
Mit einem flüchtigen Blick überprüfte der Burgunde die Fesseln um die Handgelenke des Räubers. Der Eber würde sie mit einer einzigen Bewegung abstreifen können. Vorsichtig zog Volker sein Messer aus dem Gürtel und ließ es dem Eber in die Hände gleiten.
»Wir werden das Tor der Garnison öffnen müssen. Ich glaube nicht, daß Golo und deine Männer es ohne unsere Hilfe schaffen werden, hier hereinzukommen.«
»Nichts leichter als das«, höhnte der Eber. »Wir müssen nur ein halbes Dutzend Wachen töten... Vielleicht sogar noch ein paar mehr... Und dann werden wir die Stadt übernehmen. Ich muß von Sinnen gewesen sein, als ich deinem verrückten Plan zugestimmt habe, Ritter.«
»Ich war schon schlimmer in der Klemme«, murrte Volker einsilbig.
»Genau! Weil diese...«
Die beiden Wachen an der Tür salutierten ihre Speere, und ein junger Offizier trat ein. Der Mann hatte kurzgeschorenes blondes Haar und eisgraue Augen. Er war mit einer reich bestickten Tunika bekleidet und trug sein Wehrgehänge lose in der Hand, so als habe man ihn gerade aus dem Bett geholt. Einige Atemzüge lang musterte er den Eber, dann blickte er zu Volker und lächelte triumphierend.
»Hat diesen Hurensohn und Kinderschänder doch noch sein Schicksal ereilt! Niemand kann auf Dauer dem Licht der Gerechtigkeit entgehen, das die Finsternis tilgt. Du bist zum Vollstrecker von Mithras’ Willen geworden, Jäger. Heute hat die Hand des Gottes dich geführt.« Der Statthalter lächelte noch immer. Volkers Blick fiel auf einen schmalen Goldring an der Hand des Mannes, der mit einem Löwenkopf verziert war. Irgendwo hatte er so ein Schmuckstück schon einmal gesehen...