Der Spielmann blickte zum Tor. Hoffentlich hatten Golo und seine Gefährten es geschafft, das Stadttor zu erobern. Sonst würde es herzlich wenig nutzen, das Tor des Kastells zu öffnen.
In den Schatten der Stallungen geduckt, schlich Volker bis zur Festungsmauer und folgte ihr bis zu den Tortürmen. Er mußte den Wachtposten überraschen. Der Kerl durfte keinen Laut mehr von sich geben! Mit dem Rücken gegen die Mauer gepreßt, stand er dicht neben dem Torbogen und lauschte. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Vielleicht war der Posten gegangen? Volker konnte sich an zwei kleine Türen im Torgang erinnern, die ins Innere der Türme führten. Womöglich war der Soldat gar nicht mehr hier.
Der Spielmann zog sein Schwert und verbarg es unter seinem Umhang. Dann trat er um die Ecke.
»Halt! Wer bist du?« In der Finsternis blitzte eine Speerspitze.
»Schon gut, Mann. Ich bin der Jäger, der den Eber gefangen hat. Dein Kommandant hat mir meine Belohnung gegeben. Ich soll jetzt gehen.«
»Warum habe ich dich nicht über den Hof kommen sehen?«
Volker machte einen raschen Schritt nach vorne, zog das Schwert unter dem Mantel hervor und stieß es dem Franken in den Bauch. Gleichzeitig preßte er dem Sterbenden seine Linke auf den Mund. Der Krieger bäumte sich auf, doch mit jedem Herzschlag wurde sein Widerstand schwächer. Als der Franke sich nicht mehr rührte, ließ Volker ihn zu Boden gleiten. Dann wandte er sich zum Tor. Ein riesiger Balken, groß wie ein halber Baumstamm verschloß die beiden Flügel. Der Spielmann seufzte. Er würde wohl auf den Eber warten müssen, um den Torbalken leise aus seiner Verankerung heben zu können. Seine Kraft mochte wohl reichen, ihn allein bei Seite zu schieben, doch wenn der Balken polternd auf das Pflaster fiel, würde der Lärm die halbe Garnison aufwecken! Müde lehnte sich der Spielmann gegen die Mauer. Es war kalt. Seine Kleider waren vom Blut des Franken durchnäßt und wärmten nicht mehr. Wie hatte es nur so weit kommen können, daß er mit Räubern eine schlafende Stadt überfiel...
Eine der Türen zum Hof öffnete sich. Gelbes Licht fiel in einem breiten Streifen auf das Pflaster. Zwei Gestalten erschienen unter der Tür. Leicht schwankend traten sie hinaus und hielten auf die Ställe zu.
»Ein Hoch auf den Statthalter und seinen Wein«, grölte einer der Männer.
»Und ein Hoch auf den Eber, der sich hat fangen lassen.« Die beiden lachten. Offenbar hatte der Statthalter seinen Männern zur Feier des Tages ein Faß Wein überlassen.
Volker hob den Bogen. Er mußte etwas tun. Die beiden hielten fast genau auf die Stelle zu, an der die Leiche des Statthalters lag. Was zum Henker wollten sie nur bei den Ställen? Verzweifelt blickte der Spielmann auf den Bogen, der neben ihm an der Wand lehnte. Nein, das war keine Lösung. Selbst wenn er mit dem ersten Schuß einen der beiden niederstreckte, würde der andere noch im selben Moment Alarm geben. Und wenn er einfach hinüberging... Doch das wäre dasselbe. Brachte er einen um, hätte der andere auf jeden Fall noch Gelegenheit zu schreien.
Die beiden hielten vor der Wand der Stallungen und erleichterten sich in die schmale Abflußrinne, die unterhalb der Mauer verlief. Volker begann zu beten. Nur die Heiligen vermochten ihm jetzt noch zu helfen. Oder vielleicht der Erzengel Gabriel... Gabriel war ein Krieger. Er hätte Verständnis für diese verzweifelte Lage.
Der erste der Männer drehte sich um und machte sich auf den Rückweg zur geöffneten Tür auf der anderen Seite des Hofes. Der Lärm eines Festes ertönte von dort. Trinksprüche und derbe Soldatenlieder. Auch das helle Geschrei von Huren war zu hören.
Jetzt drehte sich auch der zweite Kerl um. Volker atmete erleichtert auf.
Plötzlich hielt der Soldat vor der Mauer inne. Er beugte sich in Richtung des toten Statthalters. Der Spielmann biß sich auf die Lippen. Dann griff er nach dem Bogen. Wenn Alarm gegeben wurde, kämen die Krieger als erstes hierher, um das Tor zu sichern.
»Heh, Kamerad! Du hast dir einen schlechten Platz zum Schlafen ausgesucht.« Der Franke lachte heiser. »Dort muß dir doch das, was vom Wein geblieben ist, direkt unter der Nase vorbeilaufen.«
Leicht schwankend, bückte sich der Mann. Der zweite Soldat hatte sich inzwischen wieder umgedreht. »Ruidiger, wo bleibst du?«
Volker hatte das Gefühl, daß sein Herz so laut wie eine Trommel schlug. Jetzt war alles vorbei. Ihm blieb nur noch, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Er hatte immer gehofft, einen heldenhaften Tod in einer Schlacht zu sterben, so daß die Barden eines Tages vielleicht Lieder über ihn singen würden. Jetzt, wo der Tod so nahe war, war er plötzlich wieder ruhig. Er griff nach dem Bogen.
Der. Krieger bei den Pferdeställen drehte inzwischen den Leichnam des Statthalters herum. Einen Lidschlag lang verharrte der Franke. Dann erkannte er, wer dort vor ihm lag, und sein gellender Alarmruf schallte über den Hof.
Volker zog die Sehne des Bogens durch.
»Schaut hierher, ihr fränkischen Hurenböcke! Hier steht euer schlimmster Feind. Der Eber! Zuerst habe ich mir euren Statthalter geholt, und jetzt seid ihr dran. Niemand kann den Eber töten!« Der Räuber stand auf den Stufen unter dem Portal des Praetoriums. Er hielt zwei gekreuzte Kurzschwerter über sein Haupt erhoben und sah aus wie ein Kriegsgott aus der Zeit, in der Götter noch manchmal auf Erden wanderten.
Der Spielmann ließ den Bogen wieder sinken. »Danke!« murmelte er leise. Es war offensichtlich, daß der Eber versuchte, die Franken vom Tor abzulenken. Er wußte genau, daß sie nur dann überleben konnten, wenn es Volker gelang, ihren Gefährten das Tor zu öffnen. Vorausgesetzt, Golo hatte es geschafft, die Räuber in die Stadt zu lassen, und wartete nun auf der anderen Seite des Tores.
Die Tür des Wachturms schlug auf. Volker duckte sich tief in die Schatten unter dem Torbogen. Drei vollbewaffnete Krieger liefen auf den Hof. Auch aus der erleuchteten Tür stürmten Männer mit Schwertern und Speeren. Der Ruf des Ebers hatte sie offenbar schlagartig nüchtern werden lassen. Noch standen sie zögernd in der Mitte des Hofes. Aufgeregte Rufe gellten durch die Nacht. Ihnen fehlte ein Anführer...
»Nun, ihr Bastarde! Wartet ihr noch, daß Verstärkung aus Castra Bonna eintrifft, bevor ihr es wagt, mich anzugreifen?«
Volker war aufgestanden und schob seine Schulter unter den Eichenbalken. Zoll für Zoll bewegte sich der schwere Riegel.
»Packt ihn!« Die Franken stürmten auf den Eingang des Praetoriums zu.
Der Eber senkte seine Schwerter. »Verreckt!« Mit einem Satz war er die Stufen hinabgesprungen und rannte den Soldaten entgegen.
Volker stemmte sich mit aller Kraft gegen den Querbalken. Endlich spürte er, wie das schwere Holz ins Gleiten kam. Vom Platz ertönte das helle Klingen von Schwertern und die Schreie der Kämpfenden. Niemand hörte, wie der Torbalken zu Boden fiel. Sofort machte sich der Spielmann an einem der mächtigen Torflügel zu schaffen. Knirschend bewegte sich das Tor in den Angeln. Als der Spalt breit genug war, um einen Mann durchzulassen, blickte er auf den kleinen Marktflecken unterhalb der Garnison. Dort hätten Golo und die anderen stehen sollen. Doch der Platz war leer.
Volker schluckte. Irgend etwas mußte schiefgegangen sein. Wenn er jetzt davonlief, würde er vielleicht entkommen können. Noch immer ertönte Kampflärm hinter ihm. Doch es war klar, daß der Eber höchstens noch für ein paar Augenblicke gegen die Übermacht standhalten konnte.