Schon von weitem konnte Golo die grünen Umhänge und die roten Schilde erkennen, die die Krieger Giselhers, des Bruders des Königs, trugen. Er war zum Statthalter von Treveris eingesetzt worden und residierte nun in dieser Stadt, in der angeblich einst der Kaiser Konstantin geherrscht hatte.
Unmittelbar vor ihnen passierte ein hoch mit nassem Heu beladener Wagen das Doppeltor. Offenbar kannten die Wachen den Kutscher, denn sie winkten den Mann durch, ohne auch nur einen Blick auf dessen Fracht zu werfen. Ihnen beiden jedoch verstellten sie den Weg. Ein älterer Mann mit einem prächtigen Bart winkte sie zur Seite.
»Was wollt ihr beiden in der Stadt? Hier tragen nur die Männer des Königs Waffen.«
Golo wollte antworten, doch Volker gab ihm ein Zeichen zu schweigen. Der Spielmann musterte den Torposten kühl. »Weil hier nur die Männer des Königs Waffen tragen, solltest du uns besser durchlassen.«
»Was soll das heißen, Kerl? Werd’ hier nicht frech, oder ich laß dir das Maul stopfen!«
»Das soll heißen, daß vor dir Volker von Alzey, ein Vertrauter des Königs Gunther und Freund deines Herren Giselher, steht. An meiner Seite siehst du meinen Vertrauten, den Ritter Golo und...«
»Und ich bin der Schwager des Königsbruders Gernot!« Der Wächter lachte. »Das ist die dreisteste Lüge, die ich jemals gehört habe, Fremder. Bist du ein Possenreißer oder ein Narr? Oder hat Gott dir den Verstand verwirrt, daß du dich für einen Herrn von Adel hältst? Der Mann, für den du dich ausgibst, ist ein berühmter Held, und er führt in den Bergen, die du dort hinten auf der anderen Seite des Flusses siehst, Krieg gegen den Ketzerfürsten Ricchar.«
Für einen Moment lang konnte Golo beobachten, wie es Volker förmlich die Sprache verschlug. Doch der Spielmann hatte sich schnell wieder gesammelt. »Siehst du diesen Wollumhang? Hast du je einen Stoff in diesem Rot gesehen? Nur Volker trägt einen solchen Umhang. Und sieh mein Schwert! Ist das die Waffe eines Jägers aus den Bergen?«
Ein junger Ritter im Kettenhemd, der offenbar die Wachen am Tor kommandierte, war inzwischen auf sie aufmerksam geworden und trat an die Seite des Kriegers. »Was geht hier vor, Ruitbold? Machen die beiden Ärger?«
»Würdet Ihr diesem hirnlosen Waffenständer erklären, daß es sich nicht ziemt, dem Spielmann des Königs den Zugang in eine burgundische Stadt zu verwehren. Wenn ich nicht spätestens in einer halben Stunde in einem warmen Bad sitze und einen Becher voll geharztem Wein in Händen halte, werde ich dafür sorgen, daß ihr beiden die nächste Gesandtschaft in die Barbarenlande begleiten dürft.«
Der junge Ritter wollte schon zu einer passenden Antwort ansetzen, als er plötzlich erbleichte. »Bei allen Heiligen! Ihr seid es wirklich, Herr Volker. Es ist lange her, daß ich zum letzten Mal die Ehre hatte, einem Eurer Lieder am Hofe des Königs zu lauschen und... vergebt mir diese Bemerkung... doch Ihr saht damals... anders aus.«
»Eure Anspielung auf mein Äußeres ist nicht gerade höflich, Ritter.«
»Vergebt, Herr. Ich wollte nur erklären, warum ich Euch nicht gleich erkannt habe. Wenn Ihr gestattet, werde ich Euch sogleich zum Fürsten Giselher geleiten. Ich bin sicher, daß er Euch umgehend sehen möchte und...« Der junge Ritter strahlte. »Ich... Ich wollte nur sagen, daß ich glücklich bin, einem Helden wie Euch begegnen zu dürfen. Wir alle hier sind begierig auf jede Nachricht aus den Bergen und die Geschichten, die die Reisenden von Euch erzählen.«
Golo musterte den Ritter verständnislos. Was für Geschichten meinte er? Irgend etwas stimmte hier nicht. Entweder verwechselte man sie oder...
Volker räkelte sich im Holzschuber und streckte seine müden Glieder, während eine Magd heißes Wasser nachgoß. Es gab drei große Thermen in der Stadt, doch obwohl die Römer vor nicht einmal einer Generation die Herrschaft über Treveris aufgegeben hatten, funktionierte schon jetzt keine der großen Badeanlagen mehr. Nun ja, verglichen mit der Wildnis war auch ein hölzerner Badezuber Luxus. Volker musterte die dralle Magd, die sich gerade gebückt hatte, um neue Scheite unter den Kessel zu legen, in dem das Wasser für den Badebottich erhitzt wurde. Sie war ein wenig kräftig gebaut, aber nur für eine Nacht wäre sie sicher eine unterhaltsame Gespielin. Vor allen Dingen ihr frecher Blick hatte ihm gefallen...
Etwas lustlos kratzte er mit dem Rasiermesser über seine Wangen. Er hatte sich schon zweimal geschnitten und hätte das verfluchte Ding am liebsten in die Ecke geworfen. Es gab Schlachten, in denen er weniger Blut verloren hatte als an diesem Nachmittag bei der Rasur. Aber wenn er vor den Bruder des Königs trat, wollte er wieder aussehen wie ein Ritter und nicht wie ein abgerissener Wegelagerer.
»Ist das Wasser warm genug, Herr?«
Die Magd lächelte verführerisch. Baderinnen hatten im allgemeinen einen sehr schlechten Ruf, doch das war nichts, was ihn schreckte. Im Gegenteil! Bei einer Frau mit schlechtem Ruf hatte er sich noch nie gelangweilt. Er lächelte zurück. »Erstreckt sich dein Dienst bis in die Nachtstunden?«
»Das kommt ganz darauf an...«, entgegnete sie mehrdeutig.
»Vielleicht würde ich deine Dienste noch einmal gerne in Anspruch nehmen, wenn der Statthalter mich wieder entlassen hat.«
»... und du willst sicherlich nicht noch einmal ein Bad nehmen. Nun, ich weiß nicht, ob es Sünde ist, sich mit einem Mann wie dir einzulassen. Doch du warst es ja schließlich, der mich gefragt hat, und wer bin ich, daß ich mich einem, den Gott selbst auserwählt hat, verweigern könnte.«
Volker runzelte die Stirn und blickte die Baderin fragend an. Was meinte sie damit? Alle in dieser Stadt behandelten ihn so komisch. Selbst Golo war das schon aufgefallen. Sein Kamerad hatte sich nur kurz über einer Viehtränke gewaschen und dann nach der Küche umgesehen. Golo war der Meinung, daß ein allzu ausgiebiger Kontakt mit Wasser krank machte.
»Du meinst, ich bin auserwählt, weil ich dem Adel angehöre?«
Jetzt blickte die Baderin verwundert. »Bist du so bescheiden, oder willst du mich foppen? Adelige gibt es viele, und ich habe schon mehr als einem Ritter das Bett gewärmt. Nein, es geht um...«
Die Tür ging auf und ein hochgewachsener junger Krieger trat ein. Giselher! »Du darfst dich entfernen!«
Die Baderin verbeugte sich und verschwand wortlos. Volker fluchte innerlich und nickte höflich. »Verzeiht, wenn ich nicht aufstehe und mich vor Euch verbeuge, Herr, aber ich fürchte, in meiner Lage wäre das noch unschicklicher, als die höfische Etikette zu verletzen, indem ich sitzen bleibe.«
»Wie ich sehe, hat sich an deinem Humor nichts geändert.« Giselher war ein Stück vor dem Bottich stehengeblieben, hatte den Kopf ein wenig schief gelegt und musterte ihn, als wären sie sich gerade zum ersten Mal begegnet.
Volker war von dem seltsamen Verhalten aller, die ihm begegneten, in zunehmendem Maße irritiert. Stimmte etwas nicht mit ihm? Er strich sich mit den Händen über die Wangen. Freilich, seine Rasur war noch nicht ganz beendet, und er hatte seine schulterlangen Haare abgeschnitten, doch so sehr konnte ihn das doch nicht verändert haben. Er hatte seine halbe Kindheit zusammen mit Giselher in Worms verbracht. Warum starrte der Kerl ihn jetzt so unverhohlen an?
»Stimmt etwas nicht, mein Fürst?«
»Laß diesen Fürstenquatsch! Wir haben früher ganz normal miteinander gesprochen, und so sollte es auch weiterhin sein, oder bist du jetzt zu heilig dazu?«
»Zu heilig? Was willst du damit sagen?«
Giselher blickte ihn streng an. »Treibst du ein Spiel mit mir, Volker? Du wirst doch wohl nicht vergessen haben, wie dir ein Erzengel erschienen ist und dich in die Berge gerufen hat, um von dort den Krieg gegen den Ketzerfürsten zu beginnen.«