Der Spielmann seufzte. »Ich bin erschöpft von der Reise, und du verlangst eine schwere Entscheidung von mir. Ich soll gegen einen Mann in den Krieg ziehen, der nicht mein Feind ist... Gib mir etwas Bedenkzeit!«
Der junge Fürst schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Volker. Seit deiner Rückkehr aus Aquitanien bist du nicht mehr der Mann, den ich einst kannte. Du sollst deine Frist bekommen... Doch sobald der Bote, den ich nach Worms geschickt habe, zurückkehrt, erwarte ich eine Antwort von dir. Denk doch an die Erscheinung, die du in Castra Bonna gehabt hast! Der Erzengel, der vom Himmel zu dir herabgestiegen ist... Du mußt zurück in die Berge! Gott will es!«
11. KAPITEL
Gierig sog Golo die kühle Abendluft ein. Den ganzen Nachmittag hatte er in der stickigen Hitze der Küche verbracht. Für einen Ritter ziemte es sich zwar eigentlich nicht, sich unter das Gesinde zu begeben, dennoch war dies der Ort, den er wann immer möglich zuerst aufsuchte, wenn er mit Volker in eine Burg oder Residenz einkehrte. Eine kurzer Besuch in der Küche vermochte mehr über einen Burgherren zu verraten, als man an einem ganzen Abend herausfand, den man mit ihm an seiner Tafel saß. Gerade weil sich adelige Gäste in der Regel nie an die Herdfeuer einer Burg verirrten, waren sie so aufschlußreich. Hier mußte ein Gastgeber nicht mehr repräsentieren. Die Küche offenbarte sein wahres Gesicht.
Waren die Mägde und Köche zum Beispiel spindeldürr, so konnte man gewiß sein, daß, egal wie freigiebig der Burgherr an seiner Tafel tat, er doch heimlich jeden Becher Wein mitzählte, den seine Gäste tranken. Man konnte auch davon ausgehen, daß ein solcher Geizhals ein üppiges Mahl niemals ohne Hintergedanken gab.
Ein Tyrann hingegen hatte in der Regel ein ganzes Rudel kleiner Tyrannen unter seinen Gefolgsleuten, die von verängstigten Duckmäusern umgeben waren. In einem solchen Fall waren das Verhältnis zwischen dem Mundschenk und den Köchen und den Mägden häufig ein getreuer Spiegel der Machtverhältnisse am Tisch des Fürsten.
Die Küche hier in Treveris war sympathisch. Die Dinge liefen ohne Eile, und doch war alles zur rechten Zeit bereit. Die Sauce fand zum Braten, ein Teller mit Butter und weißem Käse zum frisch gebackenen Brot. Selbst die niedrigsten Mägde wagten es, über den Koch des Prinzen zu scherzen, und ständig war in irgendeiner Ecke des Raums ein Kichern zu hören. Unbehaglich war allein die Küche selbst, denn sie war einfach zu groß, um so gemütlich wie die Herdstelle in einer Burg zu sein, wo alle dicht beieinander hockten. Es gab drei verschiedene Öfen und mehrere offene Feuer unter gemauerten Kaminen, wo Braten zubereitet wurden. Einst mußten hier die Mahlzeiten für einen riesigen Hofstaat gekocht worden sein. Man sagte, Kaiser Konstantin habe hier vor langer Zeit geherrscht. Was für Gerichte wohl auf seiner Tafel gestanden hatten?
Golo leckte sich nachdenklich die Lippen und dachte an Gerichte, die er bislang nur vom Hörensagen kannte. Nüsse so groß wie Kinderköpfe, in deren Inneren angeblich Milch war, süßes Gebäck, aromatisiert mit Zimt und anderen Gewürzen aus dem fernen Arabia Felix, geharzte Weine aus Lesbos und aus Ephesos, serviert in Gläsern, so klar wie die Luft an einem kalten Wintertag. Der Recke seufzte leise.
Mit einem lauten Krachen fiel etwas vor seine Füße. Golo blickte hinab. Es war ein Stock, mit Kaninchenfell umwickelt.
»Bist du bereit zur Fechtstunde, Krieger?«
»Mechthild!«
Hinter einer Säule trat das junge Mädchen hervor. Sie hatte ihre Haare mit Knochenkämmen hochgesteckt und trug neue Kleider. Eine lederne Hose, eine Tunika aus grüner Wolle und eine pelzbesetzte Weste. In den Händen hielt sie einen fellumwickelten Stock. »Nun, Fechtmeister? Wie steht es mit uns?«
Golo lachte und hob den Stock zu seinen Füßen auf. »Schön dich zu sehen, Kleine. Mal schauen, ob du noch etwas behalten hast.« Der junge Ritter machte einen Ausfallschritt nach vorne und zielte mit einem Stich auf die Brust des Mädchens.
Geschickt wich Mechthild mit einer Drehung zur Seite aus, täuschte ihn mit einer Finte und versetzte Golo dann einen leichten Schlag auf den rechten Arm.
»Beim gehörnten Baphomet! Wo hast du das denn gelernt!«
Das Mädchen grinste. »Ich hatte eine gute Lehrerin. Aber...« Sie stockte und blickte ihn auf eigenartige Weise an. »Ich habe dich vermißt, Golo.«
Der Ritter ließ den Stock sinken und erwiderte ihren Blick. Erst jetzt, in ihren neuen Kleidern, fiel ihm auf, wie reif die Formen des Mädchens doch schon waren. Oder war es möglich, daß sie sich in weniger als einem Monat so sehr verändert hatte? Er schloß sie in die Arme. »Es ist kaum eine Stunde vergangen, in der ich mich nicht gefragt habe, was aus dir geworden ist und wohin dein Weg dich geführt haben mochte. Komm laß uns an einen ruhigen Ort gehen. Es gibt viel zu erzählen.«
Statt einer Antwort lächelte Mechthild nur. Dann griff sie ihn bei der Hand, und sie gingen zu den Ställen.
Volker hatte vor Ärger fast keinen Bissen während des abendlichen Festmahls herunterbekommen, das Giselher ihm zu Ehren veranstaltete. Er saß auf dem Platz zur Rechten des Gastgebers; es machte ihm zu schaffen, wie er den ganzen Abend über angegafft wurde. Nicht, daß er es nicht gewohnt gewesen wäre, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Im Gegenteil, als Spielmann genoß er es sogar, wenn niemand ihm Saale den Blick von ihm zu wenden vermochte und er einem Teil der Frauen ansah, wie ihre Herzen schneller zu schlagen begannen, wenn er seine traurigen Liebeslieder sang. Doch das hier war etwas gänzlich anderes! Diesmal woben die Blicke kein Band, sondern sie schufen Distanz. Es war, als sei er für die Gäste wie eines der Heiligenbilder im Bogen über dem Hauptportal des Wormser Münsters. Ein Heiligenbild, aus Stein geschlagen. Nah und doch unnahbar!
Und dann kam der Auftritt Belliesas! Ihm hatte Giselher verboten, seine Laute mitzubringen und eines seiner Lieder zu singen. Angeblich würde er damit seinem neuen Ruf und indirekt auch der Sache des Königs schaden, hatte der junge Kriegsherr behauptet. Volker schnaubte verächtlich! Was für ein Unsinn! Die Hälfte der Gäste an der Tafel kannte er schon seit Jahren. Sie mußten doch wissen, wer er war!
Die junge Bardin hatte die Abfolge ihrer Lieder und der vorgetragenen Epen wohl durchdacht. Sie begann mit biblischen Geschichten um die Erzengel und fuhr dann damit fort, wie ihm, Volker, in Castra Bonna der Erzengel Gabriel erschienen sei, um ihn zu erleuchten. Seine Mission sei, das Land vom Ketzerfürsten zu befreien. Der Spielmann lachte stumm in sich hinein. Unsinn!
Danach trug Belliesa ein Epos über den Cheruskerfürsten Arminius vor, der mit wenigen schlecht bewaffneten Gefährten die Römer von seinem Land vertrieben hatte. Das nächste Lied, drehte sich dann darum, wie Volker allein in Icorigium die Macht Ricchars herausgefordert hatte. Sie berichtete auch, wie der Erzengel selbst in einem Kampf mit dem Eber seine Schwerthand führte, so daß er den gefährlichen Räuber mit verbundenen Augen bezwingen konnte und ihn anschließend zu seiner Sache bekehrte. Zum Schluß hörte der Spielmann kaum noch zu. Glaubte man ihr, war er mittlerweile der Anführer einer kleinen Armee, die sich gegen die Tyrannei erhoben hatte.
In der Festhalle herrschte Totenstille. Jeder, selbst die Bediensteten, die Fleisch und Wein auftrugen, schienen an den Lippen der Bardin zu hängen. Sogar Golo, der es eigentlich besser wissen müßte, hatte einen seltsam entrückten Blick. Glaubte er etwa den Unsinn, den Belliesa verbreitete? Wie konnte jemand, der ihn kannte und dem in den letzten beiden Jahren keines seiner Laster verborgen geblieben war, ernsthaft in Erwägung ziehen, er sei der Auserwählte eines Erzengels!