Sie nahm Golos Hand und legte sie auf ihre linke Brust. Sie war klein und fest. Die Brust eines Mädchens. »Fühlst du? Mein Herz sagt immer nur deinen Namen. Go - lo, Go - lo, Go - lo...«
»Ich...« Glühende Schauer überliefen den Ritter. Alles um ihn herum schien plötzlich wirklicher zu sein, so, als habe sich innerhalb eines Atemzuges die ganze Welt verändert. Wie Donnern klang der Regen, der auf das Dach der Scheune prasselte, und wie die Stimmen fremder Götter das Schnauben der Pferde in den Ställen unter ihnen. Der Duft des Heus schien ihn zu durchdringen. Ein Prickeln lief von seinen Fingerspitzen den ganzen Arm hinauf, als er fühlte, wie sich die Brustwarze des Mädchen erhob. Er keuchte leise. Dann versuchte er sanft, die Hand zurückzuziehen.
»Warum?« Mechthild ließ ihn los. »Wegen der Männer des Ebers, die mich...« Ihr stiegen Tränen in die Augen.
»Nein! Nein, es ist...« Golo wußte nicht, wie er seine Gefühle in Worte fassen sollte. Natürlich begehrte er sie. Und doch... Sie war noch ein Mädchen. Neuer Haß auf den Eber und seine Räuber flammte in ihm auf für das, was sie Mechthild angetan hatten.
Das Mädchen hatte sich auf die Seite gedreht. Golo konnte hören, wie sie leise weinte. Er hätte sich am liebsten geohrfeigt. Warum hatte er sie so verletzen müssen? Es hätte sicher auch einen anderen Weg gegeben. Sie so zu sehen... Er streckte eine Hand nach ihrer Schulter aus, wollte sie sanft zu sich herüberziehen und in den Arm nehmen, um sie zu trösten.
Mit einem Ruck riß sie sich los. Hilflos blickte der junge Ritter zur niedrigen Decke des Heubodens. Seine Glieder schienen ihm schwer wie Stein. Er wollte fortlaufen, doch konnte er Mechthild auch nicht alleine lassen. Er wollte ihr helfen, sie trösten, doch wußte er nicht, wie. Was hatte er falsch gemacht?
Schwaych war nur ein winziger Marktflecken am nördlichen Moselufer. Nahe dem Dorf gab es eine Furt durch den Fluß. Das war der Grund, warum am Ende der schlammigen Straße, die an den niedrigen Gehöften vorbeiführte, ein steinerner Wehrturm stand. Schwarz und drohend hob er sich gegen den dunklen Nachthimmel ab. Von Spitzeln wußte Volker, daß hier zehn Frankenkrieger postiert waren. Der Spielmann blickte die Reiterkolonne entlang, die hinter ihm zum Stillstand gekommen war. Sie waren mehr als dreimal so viele wie die Franken. Zwölf Ritter und zwanzig Waffenknechte. Alle waren wie Straßenräuber oder Waldläufer gekleidet. Sie trugen schmuddelige Lederwämse und abgewetzte Wollhosen, löchrige Stiefel und mit Flicken besetzte Umhänge. Doch ihre Waffen waren neu, und unter den Kleidern der Ritter verbargen sich Kettenhemden. Alles Metall war blank und gut gepflegt. Aus fast zweihundert Männern hatte sich Volker die Besten aussuchen können. Natürlich ritt keiner der berühmten Ritter Burgunds an seiner Seite. Doch das lag nicht daran, daß sie dem Spielmann nicht mit Begeisterung auf diesen Feldzug gefolgt wären. Hagen hatte befürchtet, daß man einen der Recken wiedererkennen würde und sich daraus der Anlaß zu einem regelrechten Krieg zwischen Burgund und dem Frankenreich ergeben mochte. Solange Volker allein war, konnte man jederzeit behaupten, er habe aus eigenem Antrieb einen Aufstand angezettelt. Der Spielmann wußte, daß Gunther nichts unternehmen würde, um ihn zu retten, falls er in Gefangenschaft geriet. Im Gegenteil, der König würde leugnen, je etwas davon gewußt zu haben, was Volker in den Bergen tat. Und doch war der Ritter allein auf seinen Befehl hier.
Eisiger Regen schlug dem Barden ins Gesicht, er zog sich den schweren Wollumhang enger um seine Schultern. Keine Menschenseele zeigte sich bei diesem Wetter auf der Straße. Und falls sie doch von den Dorfbewohnern bemerkt worden waren, so hüteten sich diese, ihre Gesichter in den Türen oder hinter den hölzernen Fensterläden blicken zu lassen.
Der Burgunde hob seinen Arm und machte eine kreisende Bewegung. Die Kolonne fächerte auf. Für den Wachturm bei Schwaych hatte er sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Dies war der erste Ort, den er von der Tyrannei des Frankengrafen befreite. Es war wichtig, was für Geschichten man sich über diese Tat erzählen würde.
Volker schwang sich aus dem Sattel und holte die kleine Blendlaterne aus seinem Gepäck. Dann kauerte er sich auf den Boden. Mit klammen Fingern kramte er nach Feuerstein und Stahl in dem Lederbeutel an seinem Waffengurt. Er bauschte seinen Umhang auf, so daß er eine Höhle bildete, die das kleine Häufchen aus Birkenrinde und dürren Ästchen, das er auf den Boden geschüttet hatte, vor Wind und Regen schützte. Mit dem Stahl schlug er Funken aus dem Stein. Als ein langer Streifen Birkenrinde Feuer gefangen hatte, nahm er ihn und hielt die flackernde kleine Flamme an den Docht in seiner Blendlaterne, bis das Licht übergesprungen war.
Als er sich aufrichtete, zertrat er den kleinen Funken Glut, der noch im Reisig am Boden glomm und ging auf das Tor des Wachturms zu. Langsam erwärmte sich der hölzerne Griff der Laterne in seiner Linken. Sie war ein feines Stück Handwerksarbeit und der Beweis, daß noch nicht alle Kunstfertigkeit der Römer verlorengegangen war. An drei Seiten war der schlichte Kasten mit Holzwänden verschlossen. Nur nach vorne hin gab es ein bewegliches Brettchen, das man nach oben ziehen konnte, so das alles Licht der Kerze, die im Inneren der Laterne brannte, nach vorne fiel. Um den Kerzenschein noch zu verstärken, hatte man hinter der Flamme eine gewölbte Messingplatte befestigt. Wenn sie poliert war, reflektierte sie noch zusätzlich Licht nach vorne durch die Öffnung der Laterne. Leider verrußte das Messing ständig, so daß man es mindestens einmal am Tag neu polieren mußte.
Der Spielmann verharrte vor der Tür des Turms und blickte zurück. Nur vage konnte er ein paar dunkle Schemen erkennen. Die meisten seiner Krieger schienen wie besprochen ihre Stellungen bezogen zu haben. Volker zog den Dolch aus seinem Gürtel und lächelte bitter. »Für den König«, murmelte er leise, dann klopfte er mit dem Knauf der Waffe gegen das hölzerne Tor.
»Öffnet!« gellte die Stimme des Spielmanns. »Die Hand Gottes ruht wieder auf diesem Ort, und sie wird sich als Faust gegen jeden Heiden erheben!«
Schon nach kurzer Zeit konnte Volker Schritte und andere Geräusche im Inneren des Turmes hören. Für einen Augenblick tauchte ein blasses Gesicht in einer Schießscharte über ihm auf. Der Burgunde wußte, daß es zu dunkel war, um mehr als zehn Schritt weit zu sehen. Der Krieger dort oben würde die wartenden Ritter nicht erblicken können.
Schließlich erklang das leise Scharren eines eisernen Riegels. Das Tor des Turmes öffnete sich. Ein junger Mann, gewappnet mit einem Kettenhemd und einem Helm, auf dem ein Busch zerzauster roter Federn thronte, trat Volker entgegen. Der Franke hielt ein blankes Schwert in der Hand. Sein Gesicht war grimmig, die Lippen zusammengepreßt. Über der Nase zeigte sich eine steile Falte. Es spiegelte sich jene Art von Entschlossenheit in seinen Zügen, mit der man versucht, Angst zu überspielen.
»Bist du von Sinnen, Mann, oder nur betrunken? Du beleidigst den Gaugrafen Ricchar. Geh heim, sonst muß ich dich gefangensetzen und nach Beda schicken, damit der Statthalter dort über dein Schicksal entscheidet.« Hinter dem Rücken des jungen Offiziers drängten sich andere Krieger, die versuchten, einen Blick auf den Verrückten zu erhaschen, der dort vor dem Tor stand.
»Schnallt eure Wehrgehänge ab und ergebt euch! Dann sollt ihr verschont bleiben«, entgegnete der Spielmann mit düsterer Stimme. Er hatte nun dasselbe Gesicht aufgesetzt, mit dem er bei Hof das tragische Ende des Hildebrandsliedes vorzutragen pflegte. Hoffentlich machte der junge Kerl jetzt keinen Fehler! Volker trat ein Stück zur Seite, so daß er nicht mehr unmittelbar im Eingang zum Turm stand.