Der Offizier lächelte verwirrt. »Du drohst mir?«
»Ich bin der Auserwählte und gekommen, um den Schatten zu vertreiben, den der Heidengötze Mithras auf das Land wirft!« Der Burgunde hob den Arm. Das war das vereinbarte Zeichen. Alle seine Krieger waren mit einer Blendlaterne ausgerüstet. Ein Wand aus Licht erhellte die Finsternis.
Erschrocken fuhr der Offizier zurück. Und dann machte er einen Fehler. Er hob sein Schwert, so, als wolle er Volker angreifen. Doch er kam nicht dazu. Ein halbes Dutzend Pfeile durchbohrten seine Brust, und er wurde in den Eingang zurückgeschleudert.
Der Spielmann biß die Zähne zusammen. Dieser Trottel! Das wäre nicht nötig gewesen. Mit einem Satz war der Ritter im Eingang des Turms und zog sein Schwert. Die Frankenkrieger in der Wachstube starrten wie versteinert auf ihren toten Anführer.
»Laßt eure Waffen fallen, zum Henker! Sonst wird es euch wie ihm ergehen!«
Die Soldaten zögerten. Sie schauten Volker an, als stünde ein Teufel, der sich aus der Hölle erhoben hatte, vor ihnen. Hinter dem Spielmann stürmten die ersten burgundischen Ritter das Tor des Turms.
Klirrend fiel ein Schwert zu Boden. Dann ein zweites. Die Franken schnallten ihre Wehrgehänge ab.
»Wir ergeben uns deiner Gnade, Erleuchteter!« Ein großer rothaariger Kerl hatte gesprochen. Er mochte dem Spielmann nicht in die Augen sehen.
»Ich werde euch nicht nach den Taten befragen, die ihr im Dienste des Ketzerfürsten begangen habt. Euch allen sei das Leben geschenkt. Wir werden euch entwaffnen, und dann dürft ihr gehen, um dem Statthalter von Beda zu berichten, der Auserwählte sei zurückgekehrt, um Fürst Ricchar von seinem Thron zu vertreiben!«
Vor ihnen lag Beda, ein großes Kastell, befestigt mit dreizehn mächtigen Rundtürmen. Es wachte über die Straße zwischen Treveris und Colonia. Etwas weniger als zweihundert Schritt lang umschloß eine mächtige ovale Ringmauer den gesamten Ort.
Golo beugte sich im Sattel vor, um die Anlage besser sehen zu können. Es war ein klarer Spätherbsttag. In der letzten Nacht hatte es zum ersten Mal gefroren, und als er am Morgen erwachte, waren die Bäume mit Rauhreif überzogen gewesen. Es war nicht klug, in dieser Jahreszeit Krieg zu führen. Trotzdem hatte ihre kleine Schar in den letzten Tagen reichlich Zulauf erhalten. Es waren vor allem Bauern und Handwerker aus den Dörfern, die sie befreit hatten. Sogar zwei Mönche, die sich seit der Schließung ihres Klosters in den Bergen versteckten, hatten sich ihnen angeschlossen. Durch die beiden wußten sie, daß es überall im Bergland gärte.
Die Bergarbeiter einer Kupfermine nahe Petra Ramae hatten vor ein paar Tagen ihre fränkischen Herren überwältigt und waren angeblich auf dem Weg, um Volkers Rebellenarmee zu verstärken. Auch im nahen Dudeldorf waren die Franken vertrieben worden. Fast jeder der Freiwilligen hatte irgendwo einmal die rote Bardin gesehen, wie die Bergbewohner Belliesa nannten. Ihre Lieder waren in aller Munde, und selbst in den abgelegensten Tälern waren die Geschichten über den Auserwählten des Erzengels Gabriel bekannt.
Doch daß die Menschen ihn anhimmelten, half nicht, all die Probleme zu lösen, die sich daraus ergaben, daß der Spielmann plötzlich die Verantwortung für einen kleinen Heerzug hatte. Sie hatten nicht die Lebensmittel, um all die Freiwilligen zu versorgen. Es fehlte an Wagen und Lasttieren, die der Truppe folgten. Es hatte nicht einmal jeder eine Decke, um sich nachts zu wärmen. Man konnte meinen, die Leute erwarteten, daß Volker Wunder wirkte. Wenn sie durch ein Dorf zogen, verließen die Männer einfach ihre Häuser und schlossen sich ihnen an. Oft nahmen sie dabei nicht einmal das Nötigste mit.
Golo blickte wieder zu der Stadt hinüber. Sie brauchten Beda! Dort gab es genug Lebensmittel und auch Quartiere. Aber wie sollten sie diese Mauern überwinden. Gemeinsam mit den paar Franken, die zu ihnen übergelaufen waren, konnten sie gerade einmal vierzig ausgebildete Krieger stellen. Alle anderen hatten noch nie in ihrem Leben mit einem Schwert gekämpft. Wenn sie auf ernsthafte Gegenwehr stießen, würde es ein Massaker geben.
Volker hatte seine Ritter um sich gesammelt und allen anderen Männern befohlen, sich weit gefächert entlang der Waldränder aufzustellen. Sie sollten Lärm machen und den Eindruck erwecken, daß sich eine ganze Armee in den Wäldern versteckte. Golo glaubte nicht, daß die Franken auf diese Finte hereinfallen würden. Vielleicht war die Garnison sogar stark genug, um einen Ausfall zu wagen und dem Aufstand ein Ende zu bereiten.
Besorgt sah er zu den Waffenknechten bei den Maultieren. Ganz besonders einer unter ihnen lag ihm am Herzen. Der einundzwanzigste. Von den Rittern hatte keiner bemerkt, daß sie einen Mann mehr im Troß hatten. Volker war viel zu beschäftigt, um auch nur auf die Idee zu kommen, seine Krieger zu zählen, und die Fußsoldaten hatte Golo mit seinem restlichen Geld bestochen, damit sie schwiegen. Doch nicht einmal sie wußten, wer sich unter der roten Gugel wirklich verbarg.
Das Tor von Beda wurde geöffnet. Volker und seine Ritter verschwanden in der Stadt. Der letzte von ihnen gab ein Zeichen. Sie sollten mit allen Kräften auf die Stadt vorrücken! Was mochte das bedeuten? Wollte der Kommandant der Garnison verhandeln? Hatten vielleicht ein paar Bürger, die auf Seiten der Rebellen standen, das Tor besetzt und geöffnet? Oder war das Ganze am Ende eine Falle?
Noch immer standen die Flügel des hohen Tores weit offen. Von den Rittern war nichts mehr zu sehen. Golo kaute nervös an seiner Unterlippe. Er führte das Kommando über die zurückgebliebenen Truppen. Was sollte er nur tun? Er haßte es, für andere Entscheidungen treffen zu müssen.
»Fünf Waffenknechte bleiben beim Troß! Alle Freiwilligen, die in den letzten zwei Tagen zu uns gestoßen sind, bleiben ebenfalls hier. Der Rest folgt mir!«
In einer langen Kette traten die Rebellen aus dem Wald. Es waren weniger als fünfzig Mann. Wenn das eine Falle war, dann offenbarte sich den Franken in Beda nun die ganze Erbärmlichkeit der Rebellenarmee! Die meisten Krieger waren schlecht bewaffnet, und ihre Kleidung war nicht wintertauglich. Ein Drittel der Streiter besaß nicht einmal richtiges Schuhwerk.
Auch der Waffenknecht mit der roten Gugel hatte sich den Vorrückenden angeschlossen. Er hatte es gewußt! Golo wendete sein Pferd und ritt auf den Mann zu. »Zurück mit dir zum Troß! Noch ist der Tag der ersten Schlacht für dich nicht gekommen!«
Zwei grüne Augen funkelten ihn aus einem rußverschmierten Gesicht böse an. Wortlos drehte sich der Krieger um und ging zum Waldrand zurück.
»Wird es eine Schlacht geben?« fragte ein mit einer Heugabel bewaffneter junger Bursche. Auch wenn er entschlossen mit beiden Fäusten seine Waffe umklammerte, war er leichenblaß. »Die Franken haben uns doch die Tore geöffnet.«
»Vielleicht müssen wir noch ihre Garnison ausräuchern. Nichts Ernstes.« Golo gab seiner Stute die Sporen und setzte sich an die Spitze seiner Truppe. Er haßte es, die jungen Kerle zu belügen. Doch es wäre falsch, ihnen zu sagen, daß auch er. Angst hatte. Wo steckten nur die Ritter? Warum war keiner von ihnen zurückgekehrt, um Bericht zu erstatten. Golo begann leise zu beten. Er würde mit Freuden drei Jahre seines Lebens geben, wenn er dafür nur wüßte, was hinter den Mauern vor sich ging. Hätte er nur nicht für all die anderen zu entscheiden!
»Alles halt!« Noch waren sie außerhalb der Bogenreichweite. Falls sich Schützen hinter den Zinnen verbargen, konnten sie seine Männer nicht treffen. »Ich reite vor. Ihr wartet, bis ich unter dem Stadttor erscheine und euch ein Zeichen gebe, mir zu folgen.«
Die Krieger und Bauern schauten ihn verwirrt an. Offenbar war bis jetzt noch keinem von ihnen der Gedanke gekommen, daß sie möglicherweise geradewegs in eine Falle marschierten. Das hatte sich nun geändert. Von jetzt an hatten sie Angst. Er war ein lausiger Anführer! Er hätte einen Scherz machen sollen. Etwa, daß er vorreiten wolle, um zu sehen, ob noch genug Met für alle da sei. Beda war berühmt für seinen Met. Aber nein, er schaffte es, statt dessen seinen Kriegern den Mut zu nehmen.