Der Spielmann mußte an die Geschichte denken, die der Märchenerzähler vor so langer Zeit an einem warmen Sommertag in Worms erzählt hatte. An den Ritter, der auf seiner Suche in den Bergen in einer Höhle erfroren war. Plötzlich erschien ihm die Höhle wie ein Maul, das der Berg geöffnet hatte, um ihn zu verschlingen. Er durfte dort nicht hinein! Dort wartete der Tod auf ihn!
»Belliesa?« Volkers Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Er sollte der Spur der Bardin folgen! Sie führte auf dem Felssims entlang, fort von der Höhle. Das war ein Omen! Sie verhieß ihm das Leben... Wenn er sie nur finden könnte? Ob sie womöglich den Felsen hinabgestürzt war und irgendwo ohnmächtig im Schnee lag. Warum sonst antwortete sie nicht auf seine Rufe?
Die Augen fest auf die Spuren geheftet, ging er knapp am Steilabsturz entlang. Hier lag fast gar kein Schnee, und es kostete ihn weniger Kraft, voranzukommen.
Der Weg wand sich um einen Felsvorsprung, führte in eine Senke und traf schließlich wieder auf den schwarzen Wald. Noch immer starrte Volker auf die Fußspuren. Es war, als läge ein Zauberbann auf ihm. Eigentlich war er längst am Ende seiner Kräfte. Dennoch setzte er einen Fuß vor den anderen. Das Bild der Bardin stand vor seinen Augen und dann die Morrigan. Dieser Weg würde ihn letztlich zu seiner Geliebten führen. Er durfte nur nicht schwach werden! Er mußte ihn bis zum Ende gehen! Egal, wohin immer er auch führen mochte!
War da eine fremde Stimme in seinem Kopf? Waren das wirklich noch seine Gedanken? Waren die Bäume nicht riesige rauchgeschwärzte Knochenhände? Hatte der Tod seine dürren Finger nach ihm ausgestreckt?
Volker strauchelte. Eine Wurzel... Stöhnend richtete er sich wieder auf. Die Wurzel! Eine schwarze zur Kralle erstarrte Hand ragte aus dem Schnee. Er kniff die Augen zusammen. Das war ein Alptraum. Die Visionen, die er vor dem Sturz gehabt hatte... Sie verfolgten ihn. Ganz langsam öffnete er die Augen wieder. Die Hand! Sie war noch immer dort! Sie gehörte einem Mann in einem braunen Wollumhang, der halb vom Schnee begraben war. Sein Gesicht war grau. Die Lippen zu einem gräßlichen Grinsen zurückgezogen. Seine Augen waren weit offen. Die Angst vor dem Tod in ihnen gefroren.
Voller Panik rutschte Volker von der Leiche weg. Überall ringsherum lagen Tote im Schnee, nur halb vom eisigen Leichentuch des Winters bedeckt.
»Ich werde nicht sterben!« Taumelnd kam er auf die Beine. Er würde nicht das Schicksal der anderen auf diesem eisigen Friedhof teilen!
Wie von Wölfen gehetzt, begann er zu laufen, stolperte über Äste und Steine, die unter dem Schnee verborgen lagen, und richtete sich sofort wieder auf. Die Spur... Noch immer konnte er die Fußabdrücke im Schnee vor sich sehen. Wohin führten sie? Warum hatte Belliesa ihn auf dieses Leichenfeld gebracht? Ich bin hier, um dir deine Toten zu zeigen. Die Worte der Bardin hallten wie ein fernes Echo in seinen Gedanken. Er hatte den Mann, den er dort im Schnee gefunden hatte, noch nie zuvor gesehen. Warum hatte Belliesa ihn an diesen Ort geführt?
Der Spielmann blickte zum Kamm des Hügels hinauf. Der Himmel war mit grauschwarzen Wolken verhangen. Er mußte sich beeilen! Bald würde es wieder schneien, und die Spur würde ausgelöscht. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Ein Stück Stoff... Ein Kapuzenmantel! Jemand kauerte mit dem Rücken gegen einen der schwarzen Baumstämme.
»Belliesa?«
Keine Antwort. Was sollte das? Warum narrte die Bardin ihn? Wütend stapfte er in ihre Richtung. Der Zorn verlieh ihm neue Kräfte. Was konnte er dafür, daß diese Menschen im Schnee gestorben waren! Ihn traf keine Schuld!
»Belliesa!« Er stand jetzt hinter der Gestalt im schwarzen Umhang. Rede mit mir! Er legte seine Hand auf ihre Schulter und zog sie zu sich herum. Der Körper sank ihm entgegen. Er starrte in ein blasses Gesicht voller Sommersprossen. Rotes Haar quoll unter der Kapuze hervor. Fassungslos starrte der Spielmann die junge Frau an. Sie war nicht Belliesa. Jetzt erkannte er auch, daß der schwarze Mantel dem der Bardin nur ähnlich sah.
»Wer bist du?«
Er strich ihr sanft über die Wangen. Das Gesicht der Fremden war kalt. Vorsichtig schob er ihren Wollschal zur Seite und tastete er nach ihrem Hals. Es war kein Pulsschlag mehr zu spüren. Volker zog das kurze Jagdmesser aus seinem Gürtel und hielt der Frau die blanke Klinge vor die Lippen. Doch kein Atemhauch legte sich als grauer Schleier auf den Stahl. Sie war tot. Tot wie all die anderen dort im Wald!
Es konnten nur wenige Augenblicke verstrichen zu sein, seit sie gestorben war. Der Schal und ihr Hals waren noch warm. Woher war sie gekommen? Was hatte sie über ihn und Belliesa gewußt?
Sein Blick blieb an einem länglichen roten Fleck im Schnee haften. Eine Feder! Der Feuervogel! Er war hiergewesen und... Volker sprang auf und sah zum Himmel. Wo! Wo war er? Hatte der Zaubervogel neben der Sterbenden gekauert. War ihr die Flammengestalt erschienen, damit sie bei ihrem letzten Atemzug nicht allein war?
Es begann wieder zu schneien. Am anderen Ende des Tals ragte ein Turm auf einem Hügel. Niedrige Häuser kauerten sich um die Wehranlage. Das Dorf des Ebers! Noch zwei oder drei Meilen, und er wäre gerettet.
Er blickte zu der jungen Frau hinab. Hatte sie gewußt, daß dort das Dorf lag?
»Danke«, murmelte er leise. »Ich weiß nicht, wie du geheißen hast oder woher du gekommen sein magst, aber du wirst für immer in meinen Gebeten sein.«
Schnell zogen von Westen her dunkle Wolken auf. Es würde einen Sturm geben. Er mußte sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig das Dorf erreichen wollte. Im Freien würde er das Unwetter nicht überleben!
Golo war verzweifelt. Bevor Volker in die Berge gegangen war, hatte der Spielmann ihm das Kommando über die Armee übertragen. Warum zum Henker hatte er das nur getan? Golo hatte protestiert. Es war nicht seine Sache, Männer anzuführen. Er wollte sie lieber erst gar nicht kennenlernen. Wenn der Krieg gegen Ricchar erst einmal begann, würden ohnehin die meisten der Freiwilligen sterben. Sicher waren sie mutig, doch um eine diszipliniertere Armee zu schlagen, brauchte man mehr als nur Mut.
An dem Tag, an dem Volker gegangen war, hatte ihre Armee tausenddreihundertfünfzehn Mann gezählt. Auf Befehl des Spielmanns waren sie in Trupps von jeweils zwanzig eingeteilt worden. Doch täglich kamen neue Freiwillige hinzu, und es mußten neue Einheiten aufgestellt werden.
Golo ging unruhig auf der Mauer der Stadt auf und ab und beobachtete dabei die Männer bei ihren Waffenübungen. Die Ritter, die Volker begleitet hatten, waren jeweils als Anführer einer Hundertschaft eingeteilt. Sie hatten versucht, die Rebellen nach Waffengattungen zu organisieren. Aber das war so gut wie unmöglich. Kaum einer besaß einen Schild, und wenn man alle ihre Krieger zusammennahm, dann würden sie nicht einmal zweihundert Schwerter aufbieten. Dafür gab es aufgerichtete Sicheln, Forken und Heugabeln, Bergarbeiter, die ihre Spitzhacken mitgebracht hatten, und Waldbauern mit Äxten. Abgesehen von den Rittern und Waffenknechten, hatte ihre Armee fast keine Reiter mehr, nachdem Marcellinus mit seinen Strauchdieben davongelaufen war. Auch Bogenschützen hatten sie viel zu wenige. Sie brauchten den Eber und seine Männer!
Golo seufzte. Ihre Hoffnung war, daß ihnen wenigstens noch bis zum Frühling Zeit blieb, aus diesem Haufen so etwas wie eine Armee zu machen. Sie saßen in einer Stadt voller Schmiede und hatten etliche Wagenladungen Erz zur Verfügung. Mit jedem Tag würde die Ausrüstung ihrer Armee besser werden. Volker hatte befohlen, vor allem Schildbuckel zu schmieden. Bis zum Frühjahr würden sie nicht einmal für alle Unterführer ihrer Armee Kettenhemden fertigen können, Schilde hingegen waren leichter herzustellen. Selbst wenn die Bauern nicht lernten, wie man mit ihnen im Nahkampf umging, so würden die Schilde ihnen zumindest Schutz vor dem Pfeilhagel gewähren, mit dem die Franken üblicherweise die Schlacht eröffneten.