Die Alte wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Seine heftige Reaktion schien sie vollends eingeschüchtert zu haben. »Sie kam vor drei Tagen, Auserwählter. Sie war es auch, die Euch vor dem Tor gefunden hat. Gestern hat sie die ganze Nacht an Eurem Lager gewacht. Erst als sie sah, daß es Euch wieder besser ging, hat sie eingewilligt, in der Festhalle zu singen.«
Woher wußte Belliesa, daß er hierher unterwegs war? War es ein Zufall, daß sich ihre Wege wieder gekreuzt hatten? Volker dachte an die Tote draußen im Schnee, die der Sängerin so ähnlich gesehen hatte. Sie hatte mit der Stimme der Bardin gesprochen. Und die roten Federn. Hatte der Feuervogel die zu Tode erschöpfte Frau den Hügel hinaufgeführt? Volker wußte, daß er das Dorf des Ebers nicht mehr rechtzeitig vor dem Sturm gefunden hätte, wenn er nicht der Spur im Schnee gefolgt wäre. Dann läge auch er jetzt irgendwo dort draußen unter einer kalten Decke begraben.
Sein Magen knurrte. Er hatte das Gefühl, er könnte einen halben Ochsen verspeisen. Neben der Glut stand ein eherner Topf in der Feuerstelle. Ob es wohl etwas zu essen gab? Er sollte freundlicher zu dem Weib sein.
Auf die Alte gestützt, trat Volker in die große Halle. Erst hatte er alleine gehen wollen, denn schließlich waren ja nur seine Hände verletzt, doch nach kaum zwanzig Schritt war er froh, daß die Frau an seiner Seite ging. Ihm wurde schwindelig, die Häuser ringsherum begannen einen wilden Tanz, und hätte ihm die Alte nicht stützend unter die Arme gegriffen, dann wäre er gestürzt.
Hinter der kleinen Tür, die ins Festhaus führte, waren schwere Felle aufgehängt, um die Kälte des Winters draußen zu halten. Den gestampften Lehmboden hatte man mit einer dicken Schicht aus Stroh bedeckt, dem noch immer der Duft der Erntezeit anhaftete. Es roch aber auch nach Bier und altem Schweiß. Wie Nebel stieg Rauch von der langen Feuergrube in der Mitte der Halle auf und zog unter den geschwärzten Dachbalken bis hin zu der kleinen Öffnung, die als Abzug im Giebel ausgespart geblieben war.
Der Festsaal war gedrängt voller Leute. Es mochten fast hundert sein. Dennoch herrschte Totenstille. Alle lauschten gebannt der Stimme der zierlichen Sängerin, die auf einem der Tische stand und von Helden aus alter Zeit erzählte. Geschickt begleitete sie die Verse mit Lautenspiel.
Die Alte an Volkers Seite sorgte dafür, daß ein paar Frauen auf einer der Bänke zusammenrückten, die an der Wand nahe der Tür standen. Dankbar ließ der Spielmann sich nieder. Seine schmerzenden Hände hatte er vergessen und auch, daß er gekommen war, um nach der Heilerin zu suchen. Wie alle anderen, so hatte die Bardin auch ihn in ihren Bann geschlagen.
Fast unmerklich veränderte sich der Klang ihrer Melodie. Sie redete jetzt von Blut und Tod und den Schrecken der Verdammnis. Trotz der stickigen Hitze begannen die Menschen zu zittern. Belliesa sprach vom Bösen und dem Wirken des Bösen. »Es ist wie eine Flut. Zunächst bemerkt man es kaum, wenn das Wasser in dem kleinen Bach, an dem man lebt, zu steigen beginnt. Dann plötzlich, über Nacht, wird der Bach zu einem reißenden Strom. Eure Häuser, die ihr für sicher gehalten habt, sind überflutet. Die Schwachen, die sich gegen den Fluß stemmen, werden einfach von ihm fortgerissen. Nur die Starken vermögen ihm zu widerstehen, doch wenn das Wasser geht, erwartet sie noch eine zweite Prüfung. Das Land, das sie einst kannten, scheint plötzlich trostlos. Wiesen, Straßen und Äcker sind unter einer dicken Schicht aus schwarzem Schlamm begraben. Selbst große Bäume sind entwurzelt, die Ernte verdorben. Die Landschaft ist zum Spiegel jener Seelen geworden, die sich dem Bösen ergeben haben. Nur die Allertapfersten vermögen der Hoffnungslosigkeit, die der Flut folgt, zu begegnen. Nur jene Männer und Frauen, die eine Vision haben, werden bleiben. Jene, die sich inmitten der schlammigen Einöde wieder ein blühendes Land vorstellen können.«
Belliesa machte eine kurze Pause und blickte prüfend in die Runde. Dann wiederholte sie leise und mit eindringlicher Stimme. »Nur die Allertapfersten werden bleiben.«
»Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als würde euch der Winter in diesem Jahr das Fleisch von den Knochen fressen. Die Männer waren nicht so erfolgreich wie in früheren Jahren, als sie zur Jagd hinauszogen, und auch die Acker in den Hügeln ringsherum hatten nur eine magere Ernte erbracht. Die Vorratshäuser des Dorfes waren nicht einmal zur Hälfte gefüllt, und jeder wußte, daß noch lange vor den ersten warmen Frühlingstagen der Tod zu Gast sein würde in diesem Dorf. Kalte Verzweiflung kroch in eure Herzen, noch bevor der erste Wintersturm an den hölzernen Läden eurer Hütten rüttelte.
Doch dann brachte der Eber einen Fremden mit goldenem Haar hierher. Es gefiel dem Krieger bei euch. Er legte seine Rüstung ab und trug schon bald die Kleider der Männer aus den Bergen. Als er eure Verzweiflung erkannte, faßte er einen Plan, vor dem selbst die mutigsten Ritter zurückgeschreckt wären. Mit nur dreißig Mann wollte er die reiche Stadt hinter den Bergen erobern, um dort aus den übervollen Lagerhäusern der fränkischen Tyrannen genug Korn zu holen, um das Dorf über den Winter zu bringen.«
Fasziniert verfolgte Volker, wie die Bardin die Geschichte vom Überfall auf Castra Corona zu einem wahren Heldenepos verdrehte. Es war das erste Mal, daß er Zeuge wurde, wie sie ihn als den Auserwählten beschrieb, und er begann zu begreifen, was jene in ihm sahen, die nur Belliesas Lieder kannten.
»... ganz allein trat der Eber unter das Portal des Hauses, in dem er den Tyrannen besiegt hatte, und forderte dessen Knechte, die sich in schimmernder Wehr auf dem Hof versammelt hatten, zum Kampfe. Er sah, daß der Auserwählte in tödlicher Gefahr war, daß sie das Tor besetzen und ihn töten würden. Doch der Eber lachte der Gefahr nur ins Gesicht. Und er stürzte sich ins Gefecht, um sein Leben zu schenken, damit der Auserwählte entkommen konnte. Doch als das Tor endlich offen war und der Fluchtweg frei, kehrte der Ritter um, um an der Seite seines Freundes zu streiten.«
Volker starrte auf das schmutzige Stroh zu seinen Füßen. Zu gut erinnerte er sich an sein Zögern. Daran, wie er ernsthaft erwogen hatte, den Eber im Stich zu lassen. Der Räuberfürst hatte den Statthalter schließlich nicht im Zweikampf besiegt, so wie die Bardin es in ihrem Lied schilderte, sondern ihn einfach ermordet. Und der junge Wachsoldat, den er am Boden liegend gemeuchelt hatte, wurde auch mit keinem Wort erwähnt.
»So fochten sie Rücken an Rücken und trotz all ihres Mutes wären sie verloren gewesen, wäret nicht ihr gekommen, um sie zu retten. Die Männer des Waldes!« Belliesa drehte sich um und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Volker.
»Und dort ist er, der Auserwählte... Er hat das Krankenlager verlassen, um wieder an eurer Seite zu sein und mit seinem Freund, dem Eber, aus einem Methorn zu trinken und mit ihm zusammen zu neuen Taten aufzubrechen, um den Tyrannen Ricchar auf immer aus den Bergen zu vertreiben, damit kein freier Mann sich mehr unter der Knute der Franken beugen muß und ihr nicht mehr kämpfen müßt, um das Korn, das auf euren Feldern gewachsen ist, aus den Vorratshäusern der Besatzer zu holen! In dieser Nacht soll gefeiert werden, doch vergeßt nicht jene, die der Graf aus den Städten am großen Fluß vertrieben hat, weil sie an eure Sache glaubten.«
Volker horchte auf. Wovon sprach Belliesa? War das wieder eine ihrer Lügen? Lauter Jubel brandete durch die Halle, als die Bardin vom Tisch steigen wollte. Der Spielmann spürte, wie der Lehmboden unter seinen Füßen vibrierte, als die Männer und Frauen johlend mit den Füßen stampften. Die Krieger hatten die Bardin auf ihre Schultern gehoben.
Auch Volker packten sie nun und trugen ihn durch die Halle bis hin zum Eber, der ihm die Hand reichte. Der Räuber wirkte verändert. Die Grausamkeit und Härte schien aus seinen Zügen gewichen. Er lächelte.