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Als Volker erwachte, schmerzte sein Kopf vom vielen Met, den er am Abend zuvor getrunken hatte. Er setzte sich auf und sah sich blinzelnd um. Irgend jemand hatte ihn in die Hütte der alten Frau zurückgebracht. Er konnte sich an nichts mehr erinnern.

»Gut, daß du endlich wach wirst. Ich hatte schon überlegt, ob ich eine Handvoll Schnee holen sollte, um dich aus deinen Träumen zu reißen, Ritter!«

Volker war jetzt hellwach. Deutlich erkannte er im Zwielicht die Gestalt des Ebers. Der Gesetzlose stand über sein Lager gebeugt und blickte zu ihm herab.

»Was willst du von mir? Bist du gekommen, um mich an Stelle der Alten mit Suppe zu füttern? Stimmt etwas nicht?«

»Ja...«

»Und?«

»Es ist wegen der letzten Nacht.« Der Räuber schien mit jedem Wort zu ringen, das er über die Lippen brachte. »Wir beide wissen, daß sie gelogen hat... Daß es anders war...«

Volker seufzte. »Worauf willst du hinaus?« Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß der Eber wegen einer Lüge ein schlechtes Gewissen hatte.

»Erinnerst du dich an Belliesas Worte über das Land, das unter dem Schlamm des Flusses begraben liegt. Es ist schwarz und verdorben, doch weil sich die, die zurückgeblieben sind, vorstellen können, daß es einst wieder blühende Wiesen und Felder geben wird, wird es eines Tages auch wieder anders sein...«

Volker nickte. Er hielt das Bild, das die Bardin geprägt hatte, nicht für so eindrucksvoll wie der Räuber. Aber vielleicht war das nur so, weil er an den Ufern des großen Flusses aufgewachsen war und genau wußte, daß man nach dem Hochwasser im Frühjahr nicht viel tun mußte. Im Gegenteil. Es brachte fruchtbaren Boden, und die Felder begannen ganz von alleine wieder zu blühen...

»Ich weiß, daß ich nicht der Held bin, von dem sie gestern gesungen hat. Ich bin auch kein Narr. Ich weiß genau, daß sie mich letzte Nacht auch als einen Mörder und ein Ungeheuer hätte darstellen können... Wenn sie es gewollt hätte, wären meine Männer gekommen, um mir meine Eingeweide herauszureißen, statt mich auf ihren Schultern zu tragen, so wie sie es getan haben.« Der Eber rieb sich sein vernarbtes Kinn. Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen zwischen den beiden.

»Ich weiß, daß ich an deiner Seite ein Held sein könnte... Auserwählter. Gestern abend von meinen Männern gefeiert zu werden, das war besser als eine Nacht bei einer Hure, die sich wirklich auf ihr Geschäft versteht und mich vergessen läßt, wie ich aussehe und was ich bin.«

Der Eber ließ sich auf den grob gezimmerten Stuhl neben dem Lager aus Fellen nieder. Doch es war mehr als nur ein Sichsetzen, er schien regelrecht in sich zusammenzusinken. »Der Mord an dem Statthalter... Ich habe es wegen der Dinge getan, die er mir gesagt hatte. Ich kenne diesen Blick, von dem er gesprochen hat, sehr gut. Die Angst und den Ekel. Gestern, das war so anders... Es hat mir gut getan. Doch jetzt ist das Gefühl wieder fort. Statt dessen bin ich traurig und... Nein, es ist auch keine richtige Trauer. Es ist... Weißt du, was ich meine?«

Der Spielmann nickte. Er war sich zwar nicht ganz sicher, ob er den Räuber verstand, doch schien es ihm klüger, den Eber jetzt nicht zu unterbrechen.

»Belliesas Geschichte war eine Lüge. Du weißt genau, daß ich nur deshalb nach Castra Corona gegangen bin, weil ich Angst hatte, daß meine Männer gegen mich rebelliert hätten, wenn am Ende des Winters die Vorratsspeicher leer gewesen wären. Und trotzdem hat mich ihre Geschichte berührt... weil es die Wahrheit hätte sein sollen. Ich habe mich nie darum geschert, ob ich geliebt wurde. Aber heute abend haben sie mich gefeiert, sie haben mich hochgehoben. Und das, Ritter, war der schönste Augenblick in meinem Leben.«

»Wie war das, als du die Krieger angegriffen hast, um mich zu retten. Hattest du Angst?«

»Ja.« Der Eber nickte.

»Und dennoch hast du es getan, ohne darüber nachzudenken, ob du getötet werden könntest.«

»Weißt du, ich habe nur noch die Franken gesehen. Dich konnte ich im Dunklen nicht erkennen. Ich habe auch nicht mehr an dich gedacht. Mein Weg war versperrt, und ich wollte nur noch so viele Feinde wie möglich mit ins Grab nehmen. Das war alles. Das ist meine Heldengeschichte...«

Wieder herrschte Schweigen zwischen den beiden, bis schließlich Volker fragte: »Und wenn du am Tor gestanden hättest und ich in der Falle gewesen wäre, hättest du mir geholfen?«

»Hältst du mich für verrückt?« Der Eber grinste, dann wurde er plötzlich ernst. »Du wirst Gelegenheit haben zu sehen, ob ich mich ändern kann oder ob mich diese dummen Geschichten der Bardin nur in seltsame Stimmungen gestürzt haben. Ricchar hat all diejenigen aus den Städten, die noch unter seiner Herrschaft stehen, vertreiben lassen, die nicht öffentlich dem Christentum abschwören wollten oder denen seine Männer unterstellten, daß sie insgeheim auf Seiten der Rebellen stehen. Der Fürst hat Angst vor dir, Ritter. Ich möchte, daß er auch Angst vor mir hat. Als erstes werden wir in die Berge gehen und sehen, wer von den Flüchtlingen noch lebt... Wir bringen sie nach hier oder in die Städte. Natürlich will Ricchar unsere Vorräte erschöpfen, indem er all diese unnützen Esser zu uns schickt...«

Volker wollte protestieren. Er fühlte sich noch zu schwach, um wieder in die Berge zu gehen, aber der Räuber ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Und was uns beide angeht... Du bist wohl kaum gekommen, weil du Sehnsucht nach meiner reizenden Gesellschaft hattest. Du brauchst Krieger, nicht wahr? Du wirst mich und meine Männer bekommen. Ich werde immer an deiner Seite stehen. In jedem Heldenlied, das man über dich singt, Ritter, wird von nun an auch der Eber vorkommen... Aber ich warne dich. Wenn das alles schiefgeht, werde ich dir eigenhändig den Schädel einschlagen. Ich habe nicht vor zu verrecken... Ist das klar?«

15. KAPITEL

»Du wirst hierbleiben! Erhole dich von deinen Frostbeulen. Auf dem Marsch würdest du uns nur aufhalten.«

»Du brauchst mich, damit ich euch den Weg zeigen kann«, protestierte Volker. »Ich glaube nicht, daß ich dich als Führer brauche, um mich in den Bergen zurechtzufinden, in denen ich mein ganzes Leben verbracht habe. Die Höhle, von der du erzählt hast, liegt nicht weit von der alten Römerstraße. Die meisten Flüchtlinge werden wir entlang der Straße finden. Sie ist der kürzeste Weg von den Flußstädten nach Treveris. Ich denke auch, daß Ricchar sie mit Absicht in diese Richtung hat treiben lassen. So müssen sie uns geradezu in die Arme laufen. Womöglich hat er sogar gleich ein paar Spitzel und Meuchelmörder mit ihnen geschickt. Er wird sich denken können, daß du ihnen zu Hilfe kommst. Schließlich handelst du doch im Auftrag eines Erzengels und...«

»Genug!« zischte die Bardin.

Der Eber und Belliesa, die ebenfalls zu der Suchtruppe gehören sollte, tauschten einen langen Blick. »Ich werde mich um Volker kümmern.« Die Bardin musterte den Spielmann abschätzend. Über ihrem schwarzen Kaputzenumhang trug sie einen Überwurf aus geölten Schafsfellen. Auch um die Beine hatte sie Felle gewickelt, und ihre Füße steckten in wollgefütterten Wanderstiefeln. Die zierlichen Finger waren unter dicken Fäustlingen verborgen, und ein rauher Schal verdeckte Lippen und Nase, so daß ihre Stimme gedämpft klang. »Er sollte dabei sein. Er ist der Auserwählte. Die Leute erwarten von ihm, daß er an der Rettung teilnimmt.«

Der Eber zog die Nase hoch und spuckte in den Schnee. »Auserwählter! So ein Unsinn. Jeder Schritt, um den du unseren Marsch verlangsamst, könnte weitere Tote auf der Römerstraße bedeuten.«

»Du wirst nicht so schnell gehen können, daß ich dir nicht zu folgen vermag. Wenn dir die Zeit so kostbar ist, dann laß uns nicht länger reden, sondern aufbrechen.« Am Morgen hatte der Barde von der Heilerin die Verbände gewechselt bekommen. Dabei konnte er seine Hände betrachten. Alle Fingerkuppen waren von Schorf bedeckt gewesen, und wie ein Jagdhund hatte die Alte an jedem seiner Finger geschnuppert. Kein einziger war brandig geworden! Es würde ein oder zwei Wochen dauern, bis die Wunden verheilt waren, doch es würden nicht einmal Narben zurückbleiben.