Die neuen Verbände hatte die Heilerin so straff gewickelt, daß Volker nicht einen Finger zu krümmen vermochte. So sollte vermieden werden, daß der Schorf wieder aufplatzte und die Wunden doch noch zu schwären begannen. Die Gewißheit, daß von den Erfrierungen kein dauerhafter Schaden zurückbleiben würde, hatte ihm neue Kraft gegeben. Er fühlte sich stark genug, wieder der Kälte zu trotzen, und er hatte der Heilerin einen Zaubertrank abgeschwatzt, der jeden den Winter vergessen lassen konnte. Lächelnd tastete er nach dem ledernen Wasserschlauch, der über seine Schulter hing. Er war randvoll mit Branntwein! Ein einziger Schluck davon vermochte selbst Tote wieder ins Leben zurückzurufen. Und er hatte schon mehr als nur einen Schluck genommen. Es gab nichts Besseres gegen die Kälte!
Der Eber übernahm die Führung des Rettungstrupps. Mehr als zwanzig Mann hatten sich eingefunden, um in den Bergen nach Flüchtlingen zu suchen. Mit einem langen Eschenstab ertastete sich der Anführer der Gesetzlosen den Weg. Der Pfad zum Dorf hinauf war völlig unter der Schneedecke verschwunden. Immer wieder gab es Verwehungen, in denen die Männer bis zu den Hüften einsanken.
Eine halbe Stunde nachdem sie das Dorf verlassen hatten, begann es wieder zu schneien. Erst waren es nur einzelne Flocken, doch dann frischte der Wind auf und brachte mächtige Wolkengebirge von Westen heran. Bald fiel der Schnee so dicht, daß man keine fünfzig Schritt weit sehen konnte. Eisige Böen trieben die Schneeflocken vor sich her, so daß sie wie Nadeln in Volkers Gesicht stachen. Auch der Spielmann hatte sich einen Schal über Nase und Mund gezogen. Pochende Schmerzen in den Fingerspitzen machten ihm zu schaffen.
Noch immer ging der Eber an der Spitze der Männer. Wie ein mächtiger Platzhirsch pflügte er eine Bahn in den kniehohen Schnee. Alle anderen folgten in seiner Spur. Volker ging fast am Ende der Kolonne. Hinter ihm war nur noch Belliesa. Niemand sprach. Der verbissene Kampf mit dem Schnee forderte all ihre Kräfte.
Der Spielmann war sich sicher, daß Belliesa nur deshalb hinter ihm ging, weil sie Angst hatte, er könne zurückfallen. Was er für sie wohl bedeutete? Brauchte sie ihn nur, um ihren Krieg gegen Ricchar führen zu können, oder war da noch mehr? Er drehte sich um. Das Gesicht der Bardin war rot vor Kälte. In ihren Augenbrauen und einer Haarsträhne, die unter ihrer Kapuze hervorlugte, hatte sich Eis gebildet.
»Warum wolltest du unbedingt mitkommen?« Ihre Stimme war durch das Heulen des Windes kaum zu hören.
»Ich hatte mich in den Bergen verirrt und wäre sicherlich gestorben, wenn mir nicht eine Erscheinung den Weg gewiesen hätte. Es war eine Frau. Sie sah fast aus wie du, und sie sagte mir, sie würde mir meine Toten zeigen. Kurz darauf fand ich die Leichen von Flüchtlingen im Schnee. Ich wußte, daß sie hatten sterben müssen, weil ich Ricchar herausgefordert habe. Nur deshalb waren sie aus ihren Häusern vertrieben worden... Ich mußte zurückkommen, um so viele zu retten, wie wir finden können. Außerdem mußte ich auch deshalb mitkommen, weil ich dem Eber nicht traue.«
»Zu Recht! Er hat sich verändert, seitdem ich in der Halle gesungen habe, aber er erscheint mir noch immer wie ein Wolf im Schafsfell. Dir ist klar, daß die Flüchtlinge all ihre Wertsachen mit sich genommen haben werden, um sie zu Geld zu machen, sobald sie in Treveris oder anderswo ein neues Leben anfangen. Leichte Beute für den Eber und seine Männer! Bisher haben sie davon gelebt, solche Reisenden auszunehmen, ohne dabei groß Federlesens zu machen. Was glaubst du, was sie jetzt tun werden?«
Volker zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
Der Sturm nahm noch an Heftigkeit zu, so daß jede Unterhaltung unmöglich wurde. Stumm, die Augen auf den Rücken des Mannes vor ihm fixiert, marschierte der Spielmann weiter und versuchte, den Schmerz in seinen Händen zu ignorieren.
Der Hinweis auf die Flüchtlinge, den sie fanden, war ein Karren, der in einer Schneewehe feststeckte. Die Männer des Ebers holten die Kisten und Säcke von der Ladefläche und teilten alles untereinander, was ihnen von Wert erschien. Volker stand dabei und sah ihnen wortlos zu.
»Stell dich nicht so an, Ritter!« Der Eber schlug ihm mit der Rechten so heftig auf die Schulter, daß der Spielmann einen Schritt nach vorne taumelte. »Das nehmen wir nur mit, um die Vorräte bezahlen zu können, die wir den Überlebenden geben werden. So konnten die Toten den Lebenden einen Dienst erweisen.« Der Gesetzlose blickte grinsend zu Belliesa. »Ist das nicht ein hübscher Ausspruch für ein Heldenlied?«
»Ich fürchte, Worte allein genügen nicht, um ein Held zu, sein«, entgegnete die Bardin kühl.
Das Gesicht des Ebers wurde hart. »Ihr verurteilt mich also? Wer hält mich eigentlich davon ab, euch beiden den Hals durchzuschneiden und den prächtigsten Raubzug meines Lebens durchzuführen. Wenn alle Flüchtlinge so viel Gold und Geschmeide im Gepäck haben wie die, denen dieser Karren gehört hat, dann werde ich im nächsten Frühjahr der reichste Mann in den Bergen sein.«
»Eine Nacht wie gestern in der Festhalle wirst du dir für all dies Gold nicht kaufen können.«
»Nein? Es gibt noch mehr Barden. Ihr seid nicht die einzigen in diesem Gewerbe, und ich habe mir sagen lassen, daß die meisten von ihnen käuflich sind, und dann...«
Aus dem nahen Wald erklangen Rufe. Die Männer des Ebers hatten die Eigentümer des Wagens gefunden. Es waren drei Männer und zwei Frauen. Halb vom Schnee bedeckt lagen sie neben einer verloschenen Feuerstelle.
Der Gesetzlose spuckte neben den Toten in den Schnee. »Dumm!« murmelte er leise und gab seinen Kriegern ein Zeichen, die Leichen zu durchsuchen. »Ein Stück weiter in den Wald hinein ist eine tiefe Bodensenke. Hätten sie ihr Feuer dort gemacht, wären sie jetzt noch lebendig. Wie konnten sie nur glauben, daß die Flammen sie in so offenem Gelände wärmen würden.«
Bald ließen sie die Toten hinter sich und folgten weiter der alten Römerstraße. Es wurde schnell dunkel. Der Sturm war abgeflaut. Einige der Männer des Ebers hatten Fackeln entzündet.
Sie durchquerten ein Waldstück. Es war bedrückend still. Nur der Schnee knirschte leise unter ihren Stiefeln. Plötzlich geriet die Kolonne ins Stocken. Die vordersten Männer waren wieder auf Leichen gestoßen. Die meisten Toten waren ganz unter dem Schnee begraben. Diese Flüchtlinge hatten keine Karren und Pferde gehabt. Oder aber sie hatten sie schon früher auf ihrem Weg aufgeben müssen. Wo der Wind die Leichen teilweise freigeweht hatte, konnte man sehen, wie sich die Sterbenden zueinandergelegt hatten, um sich gegenseitig Wärme zu spenden.
Die Männer des Ebers redeten kaum. Nur wenige wagten es, die Toten zu plündern. Selbst die hartgesottenen Gesetzlosen waren von dem Anblick erschüttert.
Auch Volker vermied es, den Toten ins Gesicht zu sehen. Sie schienen zu lächeln. Ihre Lippen waren bis weit über die Zähne zurückgezogen, die Gesichter zu grotesken Grimassen erstarrt. Bisher hatte er geglaubt, die Hölle sei ein Meer aus Flammen, doch das war falsch. Sie war kalt. Das hier war die Hölle! Sie sollten zurück! Im Bergdorf waren sie sicher vor dem Tod. Hier draußen lauerte nur das Verderben. Von den Flüchtlingen lebte keiner mehr! Und wenn sie zu tief in die Berge vordrangen, dann würden vielleicht auch sie sterben. Ängstlich blickte der Spielmann zum dunklen Himmel. Bald würde der Sturm wieder beginnen. Sie mußten zurück... Das Pochen in seinen Fingern wurde immer schlimmer. Er hatte Fieber. Seine Kleider waren von Schweiß durchnäßt. Bald würde die Kälte durch sie hindurchkriechen. Er dachte an das Märchen vom Feuervogel... an den warmen Sommertag, an dem der Märchenerzähler vor der Tafel des Königs gestanden hatte. Eine Ewigkeit schien seitdem vergangen und... Volker blickte auf. An der Spitze der Kolonne geschah etwas. Einige der Gesetzlosen hatte sich um einen etwas größeren Hügel im Schnee geschart.