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Der Spielmann trat neben den Eber. Ihm war schwindelig. Er stützte sich mit einer Hand auf die Schulter des Ebers. Glühende Punkte tanzten vor seinen Augen. Volker mußte die Lider zusammenkneifen, bevor er wieder klar sehen konnte. Ein Mann und ein Frau lagen dicht neben dem Kadaver eines verendeten Pferdes.

»Was ist hier los?«

Der Eber hob einen Finger an die Lippen. »Leise. Hörst du nichts?«

Irgendwo im Wald brach ein Ast unter der Last des Schnees. Dann war es wieder still. Volker wollte schon einen Scherz über abergläubische Hinterwäldler machen, als auch er hörte, worauf die Gesetzlosen lauschen. Ein ersticktes Murmeln. Es war kein Tierlaut, doch klang es auch nicht menschlich.

»Was zum Teufel ist das?« keuchte der Eber.

»Du solltest den Namen des Versuchers an einem solchen Ort nicht so leichtfertig in den Mund nehmen.« Volker spürte einen eisigen Schauer seinen Rücken hinaufkriechen. Einige Männer des Ebers bekreuzigten sich hastig.

»Hurenkrätze! Ich laß mir doch von einem Geräusch keine Angst machen!« Er trat gegen den Kadaver des Pferdes und zuckte erschrocken zurück. Dort, wo er hingetreten hatte, schimmerte es rot unter dem Schnee. Alles war voller gefrorenem Blut.

»Bei allen Heiligen, was ist hier geschehen?« fragte einer der Räuber. »Haben sie sich gegenseitig umgebracht?«

»Drustan! Sieh du dir das mal an!« Der Eber winkte seinen erfahrensten Fährtensucher heran, der etwas abseits der Gruppe über einem Toten kauerte, dem er den Mantel geöffnete hatte, um nach Wertsachen zu suchen.

Drustan war ein schweigsamer, hagerer Kerl, der Volker kaum bis zur Schulter reichte. Er trug einen Umhang, der ein Flickwerk aus allerlei Pelz war. Der Fährtensucher kniete sich neben das Pferd und wischte den Schnee zur Seite. Er tastete über den Kadaver. Dann zeigte er auf einen schmalen Schnitt am Hals des Pferdes. »Man hat es getötet. Es...« Mitten im Satz erstarrte der Fährtensucher. Wieder war das seltsame Geräusch zu hören. Diesmal klang es wie ersticktes Schreien.

Hektisch begann der Fährtensucher an dem Leichnam des Mannes zu zerren, der an das tote Pferd geschmiegt lag. »Los, helft mir, verflucht noch mal!«

Der Eber war der einzige, der auf seine Worte reagierte. Die anderen standen wie versteinert und starrten. Halb unter dem Mann begraben lag eine Frau mit langem, blondem Haar. Ihren Kleidern nach zu urteilen, mußte sie aus einer wohlhabenden Familie stammen. Sie trug einen pelzgesäumten und mit Stickereien verzierten Umhang aus schwerer Wolle.

Der Eber fluchte leise. »Verdammt, der wäre ich gerne lebendig begegnet. Die sieht aus, als hätte man mit ihr eine Menge Spaß haben können, um sie dann anschließend für ein dickes Lösegeld an ihren Vater zurückzugeben.«

Drustan blickte auf. Eine tiefe Falte teilte seine Stirn. Er hatte der Toten eine Hand unter den Umhang geschoben. »Wie es scheint, hast du sie nur knapp verpaßt. Sie ist noch warm. Aber ihr Herz hat aufgehört zu schlagen und...« Erschrocken blickte er zu der Toten hinab.

Volker machte einen Schritt zurück. Der Fährtensucher machte ein Gesicht, als habe er dem Leibhaftigen ins Antlitz gesehen. »Da bewegt sich etwas...« Der Hagere beugte sich tiefer über den Leichnam. Keuchend schob er die Frau zur Seite. Immer deutlicher war das erstickte Wimmern zu hören. Dann hielt der Mann ein Knäuel aus Fellen und zerrissenen Decken hoch. »Es lebt!«

Zwischen den Lumpen lugte ein faltiger Kinderkopf hervor. Jetzt schlug auch Volker ein Kreuz. Das Gesicht des Kindes war so rot, als habe man seinen Kopf in kochendes Wasser getaucht. Es öffnete den Mund, doch statt des Geschrei eines Kleinkindes kam nur ein leises Wimmern über seine Lippen.

Der Fährtensucher legte es auf den Leib der toten Frau und schlug die Felle zurück. Der ganze Leib des Kindes war krebsrot. Es hatte kurze schwarze Haare und dunkler Flaum wuchs auf seiner Brust und an seinen Armen. Volker konnte sich nicht erinnern je zuvor in seinem Leben ein so haariges Kind gesehen zu haben. Etwas stimmte hier nicht! Warum war das schwächste Geschöpf von allen nicht in der Kälte zugrunde gegangen? Nach seiner Größe zu urteilen konnte das Kind höchstens drei Monate alt sein.

Der Fährtensucher griff der blonden Frau unter die Kleider und nickte dann. »Sie trägt Milch in den Brüsten. Sie muß die Mutter gewesen sein. Der Kerl an ihrer Seite ist wohl ihr Beschäler. Die beiden haben das Pferd getötet, als der Sturm begann, und es als Windschutz genutzt. Sie müssen da schon sehr entkräftet gewesen sein. Dann haben sie das Kind zwischen sich genommen, um es mit ihren Körpern zu schützen. Die zwei sind weniger als eine Stunde tot.«

Der Spielmann musterte angeekelt die rote Haut des Säuglings. Was war das? Er dachte wieder an die Hölle. Wenn diese Winterlandschaft voller Leichen das Reich Satans war, dann konnte das einzige, was hier überlebte, nur ein Geschöpf der Hölle sein!

»Legt das Kind zurück!« stieß Volker keuchend hervor. »Es wird uns alle ins Unglück reißen. Seht nur seine Haut! Es kommt direkt aus dem Tartarus!«

Alle drehten sich zu ihm um. Einigen der Männer konnte der Spielmann ansehen, daß sie seiner Meinung waren. In ihren Blicken lag das blanke Entsetzen.

Drustan beugte sich zu dem Kind und strich über dessen Brust. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist nicht verflucht. Sie haben es mir einer Salbe eingestrichen, bevor sie starben. Die Zaubersalbe zieht das Blut in die Haut und läßt einem warm werden. Ich habe selber einmal eine solche Salbe von einer Kräuterfrau bekommen.«

»Genug geschwätzt! Manu!« Der Eber winkte einem seiner Männer. »Du hattest doch etwas Milch mitgenommen. Mach ein Feuer und erwärme sie. Der kleine Kerl braucht was zu essen. Sonst stirbt er uns, noch während wir hier um ihn stehen und reden. Drustan, wickele ihn wieder in die Lumpen ein.«

Der Gesetzlose hob den kleinen Jungen hoch und musterte ihn. »Du bist der härteste von allen. Nichts kann dich umbringen.« Der Eber grinste. »Du bist wie ich. Ich werde dich beschützen.«

»Du holst das Verderben in dein Dorf, wenn du ihn mitnimmst!« ereiferte sich Volker. »Laß ihn zurück!«

Der Anführer der Gesetzlosen setzte sich auf den Kadaver des toten Pferdes und wiegte das Kind im Arm. Seine Männer schwiegen. Keiner wagte es, sich gegen ihn zu stellen, und doch konnte Volker den Räubern ansehen, daß auch ihnen das Kind unheimlich war.

Manu brachte dem Eber ein wenig Milch in einer flachen Schüssel. Er tauchte einen Finger hinein und schob ihn dann dem schwachen Kind in den Mund. »Trink! Du mußt wieder zu Kräften kommen, wenn du dem Tod trotzen willst!«

Erst wimmerte der Junge leise, doch nachdem der Eber ihm den Kopf hob, konnte er in kleinen Schlucken aus der Schale trinken.

»Ich habe sie gefunden!« erklang Belliesas Stimme von weiter vorne in der Waldschneise. Die Bardin winkte ihnen aufgeregt zu. Während sich fast alle Männer des Ebers um ihren Anführer geschart hatten, war sie einfach weitergegangen. »Überlebende!«

Der Gesetzlose warf Volker einen spöttischen Blick zu. »Er kommt also direkt aus dem Tartarus, weil er die Kälte überlebt hat. Dann haben wir jetzt wohl ein ganzes Nest voller Teufel und Dämonen aufgetan.«

Dem Spielmann war übel. Sogar das Kind schien ihn auszulachen. Sein Gesicht war zu einer häßlichen roten Maske verzerrt. Volker begann am ganzen Körper zu zittern. Jetzt konnte er das Pochen in seinen Fingern so deutlich wie seinen Herzschlag spüren. Er blickte auf seine bandagierten Hände. Schlangen wanden sich dort, wo seine Finger hätten sein sollen.

Das konnte nicht sein! Er biß sich auf die Lippen. War er denn verflucht? Auch der Schmerz in der Lippe ließ die Schlangen nicht verschwinden. Waren sie vielleicht doch kein Trugbild? Ängstlich steckte er seine Hände unter den Mantel und sah sich nach den anderen um. Das Gesicht des Ebers erschien ihm jetzt so rot wie das des Kindes, das der Gesetzlose auf dem Arm hielt. Und was war das? Unter dem Umhang des Räubers lugte ein schuppiger Schwanz hervor.