»Vade retro, satanas.«
»Was sagst du?«
»Vade retro, satanas! Weiche von mir, Teufel!« Volker machte einen Schritt zurück. Auch die Gefährten des Ebers waren Teufel. Er konnte es jetzt deutlich sehen. Er hätte niemals hierherkommen sollen. Sein Weg hatte ihn nicht in die Berge, sondern geradewegs in die Hölle geführt.
»Was ist mit dir?«
Volker drehte sich um und begann zu laufen. Fast bis zu Knien versank er im Schnee. Mühsam kämpfte er sich voran. Nur nicht zurückschauen! Wenn er sie noch einmal sehen würde, dann kostete ihn das den Verstand. Dessen war er sicher.
»Haltet ihn! Er ist von Sinnen!« erklang hinter ihm die Stimme des Gesetzlosen.
Der Spielmann strauchelte. Etwas Festes war im Schnee verborgen gewesen. Er stürzte auf eine schwarze, grinsende Todesgrimasse zu. Der Leichnam streckte ihm die steifgefrorenen Arme entgegen, um ihn in der Hölle willkommen zu heißen.
16. KAPITEL
Golo konnte nicht schlafen. Er stand am Fenster seiner kleinen Kammer und blickte auf die Stadt. Er war im Haus eines reichen Händlers untergebracht, und die ganze Familie bemühte sich darum, ihm all seine Wünsche von den Augen abzulesen. Es war lange her, daß er so oft hintereinander so gut gegessen hatte wie hier in Icorigium. Früher hatte er sich vorgestellt, daß dies alles sei, was er brauchte, um glücklich zu sein. Jetzt wußte er, daß er sich geirrt hatte.
Die verschneite Stadt sah bei Nacht sehr friedlich aus. Man sah ihr nicht an, daß sie in ihren Mauern mehr als tausend Freiwillige der Rebellenarmee beherbergte. All diese Krieger machten ihm Kopfzerbrechen. Die Vorräte gingen langsam zur Neige. Bald würde er das Korn in den Speichern der Stadt beschlagnahmen müssen. Noch ein paar Wochen, und die Städter würden Ricchar freiwillig die Tore öffnen, nur um die Rebellen wieder loszuwerden. Er mußte etwas unternehmen, doch er wußte nicht, was. Die Ritter, die Volker zurückgelassen hatte, waren keine Hilfe. Ihnen fiel nichts Besseres ein, als Männer in die umliegenden Dörfer zu schicken, um dort das Vieh forttreiben zu lassen. So konnte es nicht weitergehen!
Golo fluchte. Wenn nur Volker endlich zurückkäme! Elf Tage war er nun schon verschwunden. Das Dorf des Ebers war nicht mehr als zwei Tagesmärsche entfernt. Durch den hohen Schnee mochte es vielleicht auch vier Tage dauern, um es zu erreichen. Der Spielmann müßte längst wieder zurück sein! Hätte er nur einen Führer mitgenommen! Ihm mußte etwas passiert sein. Anders konnte Golo es sich nicht erklären, daß er immer noch nichts von Volker gehört hatte. Wäre der Barde wohlbehalten im Bergdorf angekommen und aufgehalten worden, hätte er doch wenigstens einen Boten geschickt. Ob der Eber Volker umgebracht hatte? Nein! Es mußte etwas anderes geschehen sein. Golo konnte sich nicht vorstellen, daß der Spielmann tot war. Verletzt vielleicht oder in Schwierigkeiten, doch tot? Nein. Volker war ein Held, und Helden starben nicht einfach so.
Andere hingegen... Er mußte an die Späher denken, die er ausgeschickt hatte, um Ricchars Kriegsvorbereitungen auszukundschaften. Keiner von ihnen war zurückgekehrt. Was ging in den Städten am Rhein nur vor sich? Und wie schaffte es der Graf, alle Späher und Spitzel abzufangen. Was wollte er um jeden Preis verbergen? Oder war es nur eine Strategie, um die Rebellen zu beunruhigen. Wenn dem so war, dann ging sein Plan auf, dachte Golo. Er war beunruhigt, und er hätte sofort fünf Jahre seines Lebens gegeben, wenn er nur wüßte, was Ricchar gerade plante. Der junge Ritter hatte den Eindruck, daß sich die Lage der Rebellen mit jedem Tag, den sie ungenutzt verstreichen ließen, verschlechterte. Doch was war zu tun?
Verzweifelt starrte Golo in die Finsternis. Der eisige Nachtwind biß ihm in die Wangen. Es hatte wieder begonnen zu schneien. Nie in seinem Leben hatte er einen Winter erlebt, in dem es so viel Schnee gegeben hatte. Die Verwehungen an der Stadtmauer waren zum Teil bis zu vier Schritt hoch, und es war notwendig, etliche Männer einzusetzen, um den Schnee zur Seite räumen zu lassen. Die kleinen Häuser in den Bergdörfern mußten völlig eingeschneit sein. Was es wohl für ein Gefühl sein mochte, irgendwo dort draußen in einer Hütte im Finsteren zu sitzen und zu wissen, daß das ganze Dach unter Schnee begraben lag?
Golo fröstelte es. Er schloß den hölzernen Laden vor dem Fenster und ging zu seinem Lager zurück. Seine Füße schmerzten vor Kälte. Einen Moment lang blickte er auf die zerknüllten Decken. Dann entschied er sich anders und trat zu der niedrigen Tür, die zur Kammer nebenan führte. Dort hatte er Mechthild untergebracht. Er nutzte sie den Tag über als Bote. So wunderte sich keiner, daß der junge bartlose Waffenknecht immer an seiner Seite war, und niemand konnte ihr Geheimnis entdecken.
Die Tür zu ihrer Kammer war nur angelehnt. Vorsichtig schob er sie auf und blickte auf ihr Lager. Fast jeden Abend kam er und sah ihr beim Schlafen zu. Sie hatte ihm noch immer nicht verziehen. Kein freundliches Wort war seit dem Zwischenfall in Treveris mehr über ihre Lippen gekommen. Das blasse Licht der Öllampe, das aus dem Zimmer nebenan in ihre Kammer fiel, reichte kaum aus, Golo die Züge des Mädchens erahnen zu lassen. Er lauschte auf ihr gleichmäßiges Atmen. Was konnte er nur tun, um ihr Vertrauen wiederzugewinnen? Er hatte sie hierhergebracht, obwohl sie eigentlich in Treveris hätte bleiben sollen, und schützte sie vor Entdeckung, so gut dies möglich war. Was sollte er denn noch tun? Er hatte versucht, ihr zu erklären, wie er für sie empfand, doch sie hörte ihm nicht einmal zu.
Der junge Ritter seufzte. Ob das am Einfluß Volkers lag? Vielleicht war es unmöglich, eine glückliche Liebe zu erleben, solange man mit dem Spielmann zog? Golo schüttelte verdrießlich den Kopf. Unsinn! Es mußte einen Weg geben, Mechthilds Vertrauen zurückzugewinnen. Er drehte sich um und verließ die kleine Kammer. Sorgfältig zog er die Tür zu. Seine Füße fühlten sich an wie zwei Eisklumpen. Golo ließ sich auf der Bettkante nieder und massierte seine Zehen. Er mußte versuchen zu schlafen. Wenigstens für ein paar Stunden.
Volker war froh, die Mauern von Icorigium wiederzusehen. Zwei Wochen hatte ihn seine Reise in das Dorf des Ebers gekostet. Doppelt so lange, wie er gedacht hatte. Er war ohnmächtig geworden, nachdem sie die ersten Flüchtlinge gefunden hatten. Er konnte sich fast an nichts mehr von dem erinnern, was an jenem Tag geschehen war. Angeblich hatte er sich sehr seltsam verhalten. Der Eber hatte eine Trage für Volker bauen lassen und vier seiner Leute mit ihm ins Dorf zurückgeschickt, wo er drei Tage lang mit schwerem Fieber darniederlag.
Volker hätte nicht mit hinausziehen dürfen, um nach den Flüchtlingen zu suchen. Das Wundfieber hatte noch in seinen Knochen gesteckt. Es hatte nicht mehr viel gefehlt, und diese Dummheit hätte ihn das Leben gekostet. Selbst jetzt fühlte er sich noch ganz schwach. Seine Hände waren immer noch bandagiert. Als das letzte Mal die Verbände gewechselt worden waren, hatte er seine Finger gesehen. Sie waren über und über mit grünbraunem Schorf bedeckt. Sicher würde er von diesem Winter Narben zurückbehalten. Seine makellosen schlanken Finger, die viele Frauen so sehr geliebt hatten... Die Finger eines Spielmanns... Ob sie jemals wieder so sein würden wie zuvor?
Er preßte die Lippen zusammen und blickte geradeaus. Von den Türmen der Stadt erklangen Signalhörner. Vor den Mauern konnte er dunkle Gestalten im Schnee sehen. Golo sorgte offenbar dafür, daß die Männer trotz der bitteren Kälte ihre Waffenübungen machten. Sein Ausflug hatte ihnen nur vierzig Mann eingebracht und die Bardin. Schon morgen würde er den Eber losschicken, damit er die Lager Ricchars auskundschaftete. Und Belliesa... Sie war unbezahlbar, um die Moral der Truppen hochzuhalten. Sie hatte ein Lied darüber gemacht, wie er gemeinsam mit dem Eber losgezogen war, um die Flüchtlinge im Schnee zu suchen. Es war sehr heroisch und gefiel den einfachen Leuten. Doch wie üblich hatte es mit dem, was wirklich geschehen war, nicht viel gemein.