Es wurde immer unmöglicher, der Mann zu sein, den sie in ihren Versen beschrieb. Der Auserwählte! Davon, daß er im Fieberwahn davongelaufen war, war natürlich nicht die Rede. Mehr als hundert Flüchtlinge hatten sie aus dem Schnee retten können, und der Eber spielte sich jetzt als der Beschützer von Witwen und Waisen auf. Volker schnaubte verächtlich.
Wenn er in der Stadt war, würde er zuallererst ein heißes Bad nehmen. Vielleicht fand sich auch eine Magd, mit der er sich für einen Abend vergnügen konnte. Er hatte schon lange bei keiner Frau mehr gelegen. Es war nicht mehr so leicht... Alle betrachteten ihn mit heiliger Ehrfurcht. Und mit Heiligen ging man nicht ins Bett. Wäre diese Sache nur endlich überstanden!
»Er marschiert nach Dune!« Der Eber stützte sich schwer auf den Kartentisch und zog mit dem Zeigefinger den Weg nach, den Ricchars Armee genommen hatte. Seine Pelzweste war voller getrockneter Blutflecken. Auf seiner Stirn prangte eine frische Schnittwunde. Eine Woche lang war der Räuber mit seinen Männern verschwunden gewesen, und als er in dieser Nacht zurückgekehrt war, war seine Schar zu einem kleinen Häuflein zusammengeschmolzen.
Volker hatte zunächst nur Golo und zwei der Ritter wecken lassen, denen er besonders vertraute. Er wollte nicht, daß die Neuigkeiten zu schnell die Runde machten. Es war unfaßbar! Ricchar hatte es tatsächlich gewagt, sich auf einen Winterfeldzug einzulassen!
»Wie hat er es geschafft, daß wir keine Nachrichten von seinem Vormarsch erhalten haben?« fragte Rother, einer von Volkers Rittern. Er war ein junger dunkelhaariger Krieger, dem man deutlich ansah, daß Römerblut in seinen Adern floß. Für Volkers Geschmack war er etwas zu arrogant, aber er verstand sich hervorragend darauf, Dinge zu organisieren und Schwächen in Plänen aufzudecken.
Der Eber schnaubte wie ein Tier. »Wie er das schaffte? Der Bastard hat die Wölfe geholt! Sachsenkrieger! Es müssen mindestens dreihundert sein. Sie schirmen seine Armee ab. Die Sachsen sind überall in den Bergen und Wäldern. Deshalb ist keiner unserer Späher zurückgekehrt. Und deshalb liegen jetzt über die Hälfte meiner Männer dort draußen im Schnee. Diese Hunde bringen jeden um, der ihnen verdächtig erscheint. Jede Köhlerhütte und jedes einsame Bauernhaus haben sie geplündert und niedergebrannt. Wo sie langgekommen sind, sieht es aus wie in einem Schlachthaus.«
Rother runzelte die Stirn und warf dem Eber einen vieldeutigen Blick zu. Volker ahnte, woran der Ritter dachte. Für einen ehrbaren Krieger gab es kaum einen Unterschied zwischen den Taten des Ebers und den Plünderungen der Sachsen.
»Und was ist mit Ricchars Armee?« fragte Golo.
»Ich hab’ sie gesehen. Hier unter dem Burgfelsen von Dune lagert sie.« Der Gesetzlose deutete auf die Karte. »Es sind mehr als tausend Fußsoldaten. Dazu kommen fast fünfhundert Reiter, und allein der Teufel weiß, wie viele Sachsensöldner er gedungen hat.«
»Woher weißt du, daß es so viele sind?« fragte Rother skeptisch. »Hast du sie etwa gezählt?«
»Die Schilde der Einheiten. Du weißt ja wohl, daß er seine Männer wie Römer ausstattet. So war es leicht zu erkennen, welche Truppen er aufgeboten hat. Und die Pferde habe ich selbst gesehen.«
»Macht er Anstalten, weiter auf uns zu zumarschieren?«
Der Gesetzlose schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben ein paar seiner Männer erwischt und alles aus ihnen herausgeholt, was sie wußten. Ricchar wird dort noch eine Weile bleiben. Sein Lager sieht auch so aus, als habe er sich darauf eingerichtet, dort Quartier zu machen. Angeblich wartet er noch auf weitere Truppen, die von der Mosel her zu ihm stoßen sollen.«
Volker fluchte. »Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen. Er ist jetzt schon fast doppelt so stark wie wir.«
Der Eber zog die Nase hoch und spuckte auf den Boden. »Es sieht ganz so aus, als hätte er Angst vor dir, Auserwählter.«
»Unsinn. Er erwartet, daß wir uns hier in Icorigium verschanzen. Wenn man eine befestigte Stadt erobern will, soll man dreimal so viele Truppen wie der Verteidiger aufbieten können. Am besten sogar noch mehr, wenn man ein Blutbad verhindern will. Das weiß jeder Stratege.«
Der Spielmann beugte sich über die Karte. Nahe bei Dune waren drei kleine Seen eingezeichnet. Der Weg zur Festung führte an ihnen vorbei. »Was ist das hier für ein Gelände?«
Der Eber schnitt eine Grimasse. »Die Maare? Das ist eine scheußliche Gegend. Niemand, der seine Sinne beisammen hat, geht dort freiwillig hin. Das Land dort sieht aus wie tot. Siehst du diesen See?« Der Gesetzlose zeigte auf die Karte, und seine Finger zitterten. »Das ist das Totenmaar. Dort stehen die Ruinen einer römischen Siedlung. Die Franken haben sie vor hundert Jahren niedergebrannt. Man sagt, daß es dort spukt.«
»Dann werden wir sie dort abfangen!«
»Abfangen? Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Dieser Platz ist verflucht!«
Volker nickte. »Ich habe dich sehr gut verstanden. Doch es waren die Franken, die dort gemordet haben. Sie werden noch sehr viel mehr Angst vor diesem Platz haben als unsere Männer.«
»Du willst doch nicht etwa die Stadt verlassen?« erhob Rother seine Stimme. »Sie sind uns fast um das Doppelte überlegen. Auf freiem Feld wird Ricchar unsere Truppen einfach zerschmettern. Seine Männer sind besser ausgebildet und besser bewaffnet. Du solltest nicht vergessen, daß wir keine richtigen Soldaten kommandieren, sondern einen Haufen undisziplinierter Bauern.«
»Gerade deshalb dürfen wir nicht warten. Was glaubst du, was passieren wird, wenn wir hier auf unseren Hintern sitzen bleiben, bis Ricchar vor den Toren aufmarschiert. Wenn wir ihm das Handeln überlassen, wird er vor der Stadt eine so eindrucksvolle Truppenparade abhalten, daß sich unsere Männer freiwillig ergeben, ohne auch nur einen einzigen Schwertstreich zu führen!«
»Es sind halt nur Bauern und keine Krieger«, brummte Rother.
»Nein!« Volker schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jeder von ihnen ist voller Begeisterung hierhergekommen und mit der Bereitschaft, sein Leben für die Sache einzusetzen, von der er überzeugt ist. Einen höheren Preis vermag auch ein ausgebildeter Krieger nicht zu geben. Sprich nicht so über unsere Männer. Sie werden an deinen Blicken sehen, was du von ihnen hältst. So schwächst du ihre Kampfkraft! Sie werden anfangen zu zweifeln, und die Angst wird in ihren Herzen keimen. Und was Ricchars Armee angeht... Natürlich bin ich nicht wahnsinnig. Ich werde nicht sein ganzes Heer angreifen. Wir nehmen uns den nächsten Verstärkungstrupp vor, der zu ihm stoßen will. So werden wir die Übermacht haben.« Der Spielmann drehte sich zum Eber um, der sich erschöpft auf dem einzigen Stuhl im Kartenraum niedergelassen hatte. »Traust du dir zu, unsere Truppen für zwei oder drei Tage gegen die Späher Ricchars abzuschirmen. Ich möchte, daß er nicht weiß, was wir tun. Ein anderer Trupp muß herausfinden, wann die nächsten Verstärkungen zum Armeelager stoßen.«
Der Narbige schüttelte erschöpft den Kopf. »Du bist derjenige, der hier für Wunder zuständig ist. Ich habe zu viele Männer verloren... Du müßtest mir jeden Jäger und Wilderer überlassen. Jeden, der sich in der Wildnis auskennt und mit einem Bogen umgehen kann. Um diese Aufgabe zu erfüllen, brauche ich mindestens fünfzig Mann. Besser noch mehr.«
Volker strich sich nachdenklich über das Kinn. Es mußte möglich sein, die Franken zu täuschen. Er würde schlechtes Wetter abwarten. Dann würden nur wenige Sachsenspäher die Stadt beobachten. »Golo, du sorgst dafür, daß der Eber morgen neue Männer bekommt. Unsere Versammlung ist hiermit beendet. Wir werden morgen weitersehen.«