Golos starrte zu dem Toten, der als erster in die Grube gestürzt war. Seine Augen waren weit offen und nach oben verdreht, so, als habe er bei seinem letzten Atemzug etwas am Himmel gesehen. Zu der dunklen Gestalt am anderen Ende des Loches wagte er nicht hinüberzusehen. Rastlos wanderte sein Blick und blieb schließlich an seiner blutigen Hand hängen. Ihm wurde übel. Er streifte die Hand über den Schnee. Als das getrocknete Blut abgewischt war, war sie ganz taub vor Kälte geworden. Wenn es nur schon wieder finster wäre!
Es war heller, grauer Tag. Das Röcheln auf der anderen Seite der Grube tönte fort. Golo steckte sich die Finger in die Ohren, um es nicht mitanhören zu müssen. Doch dann bekam er Angst, daß die Franken vielleicht einen zweiten Angriff wagen würden. Wenn er sie nicht kommen hörte, würde er sich nicht rechtzeitig totstellen können.
Die Gestalt gegenüber bewegte sich. Der junge Ritter zuckte zusammen. So, als stünde er plötzlich unter einem Zauberbann, war es ihm unmöglich, nicht hinüberzusehen. Der Krieger hatte einen hellblonden Vollbart, in dem jetzt Schnee klebte. Sein Kopf war zur Seite gesunken und lehnte auf der linken Schulter. Seine rechte Hand ruhte auf der Brust. Sie war blutverschmiert.
Er ist tot, redete Golo sich ein. Das Röcheln, das ist nur noch sein Körper! Der Burgunde hatte so etwas schon gesehen. Letztes Jahr in Aquitanien. Er dachte an die aufgedunsenen Leichen, die nach der Schlacht hinter den Ringwällen gelegen hatten. So, als furzten die Toten, waren manchmal übelriechende Gase aus ihren Körpern entwichen.
Der Franke versuchte, den Kopf zu heben. Für einen Augenblick wurde sein Keuchen stärker. Dann sank sein Haupt kraftlos auf die Schulter zurück. Golo fluchte leise. Warum konnte der Kerl nicht einfach tot sein? Warum dauerte das so lange!
Vorsichtig rutschte der Ritter ein Stück in Richtung des Sterbenden. Vielleicht konnte er dem Mann ja noch helfen. Auf die Hände gestützt, kroch er langsam durch die Grube. Einmal hielt er inne und wäre fast wieder umgekehrt. Der Weg von nur zwei Schritt schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. Als er endlich neben dem Franken anlangte, schlug dieser die Augen auf. Er mußte ihn gehört haben. Sein Körper lag still, aber seine Augen... Sie schrien! All sein Leben schien in ihnen versammelt zu sein, und in ihnen spiegelte sich ein unfaßbares Grauen, so, als sähe er dem Sensenmann ins Angesicht. Und Golo begriff! Er war für den wehrlosen Franken der Tod!
Der junge Ritter wollte die Hände vor sein Gesicht schlagen, doch seine Glieder waren wie gelähmt. »Nein«, stammelte er leise. »Nein.«
Er war durch den Blick des Sterbenden gefangen. Nur für wenige Atemzüge oder für eine Ewigkeit? Der Bann zerbrach, als der Krieger seine Hand auf der Brust bewegte. Sie sank um wenige Zoll tiefer. Golo beugte sich vor. Er hob die Hände, um dem Franken zu zeigen, daß er jetzt unbewaffnet war. Sofort kehrte das Entsetzen in den Blick des Fremden zurück.
»Ich will dir nichts zuleide tun, Kamerad.« Der junge Ritter erschrak vor seiner eigenen Stimme. Sie klang rauh und dunkel. »Hörst du?« Er packte den Franken unter den Achseln und richtete ihn auf, so daß er nun etwas bequemer gegen die Wand der Fallgrube lehnte. Der Kiefer des Kriegers war heruntergeklappt. Er hatte schlechte Zähne. Sein Atem stank.
»Hast du Durst? Bestimmt hast du Durst!« Golo griff in den Schnee und formte zwischen den Fingern eine kleine Kugel. Die schob er in den Mund des Franken.
»Tut mir leid. Ich habe keine Wasserflasche bei mir. Das muß helfen...« Auch er schob sich nun eine Schneekugel in den Mund und lutschte daran. Die Kälte schmerzte an den Zähnen. Doch es tat gut, etwas die Kehle hinunterrinnen zu spüren.
Der Franke hatte Mühe zu schlucken. Seine Hand war jetzt ganz von der Brust gerutscht, so daß Golo die beiden blutigen Löcher im Wams sehen konnte. Der Burgunde wünschte, er könnte etwas tun. Doch selbst wenn er ihn behandeln könnte, müßte er dazu die Kleider aufschneiden, und was nutzte es, wenn man die Blutung stillte und der Mann dafür erfror. Schon jetzt waren die Lippen des Kriegers ganz blau. In kleinen fahlen Wölkchen stand ihm der Atem über dem Mund. Golo hatte den Eindruck, daß sie mit jedem Atemzug unscheinbarer wurden.
Auch ihm selbst machte die Kälte zu schaffen. Längst war sie durch seine Stiefel gekrochen. Die Füße fühlten sich an wie Eisklumpen. Wieder sah er zum Franken herüber. War es die Kälte, die ihn tötete, oder die beiden Dolchstiche? Und was war, wenn die Männer Ricchars noch einmal angriffen und ihn hier zusammen mit ihrem sterbenden Kameraden fanden. Es wäre besser, wenn sie sahen, daß er alles nur Mögliche getan hatte, um das Leben des Mannes zu retten.
Der Tote! Er brauchte keine Kleider mehr. Golo kroch zu dem Leichnam. Der Mann war völlig steif. Das Blut, daß an den Holzpflöcken hinabgelaufen war, war gefroren. Vergeblich mühte der Ritter sich ab, ihm die Pelzweste auszuziehen. Er müßte sie in Stücke schneiden, um sie herunterzubekommen. Schließlich gab Golo auf. Er drückte dem Toten die Augen zu. »Verzeih mir, wenn ich dich bestehle. Es ist nicht für mich.« Mit einem Schnitt durchtrennte er den Kinnriemen der Wolfsfellmütze des Kriegers und zog sie im ab. Dann kroch er wieder zu dem Franken herüber.
Der Mann starrte ihn mit schreckensweiten Augen an. Jetzt erst bemerkte Golo, daß er noch immer den Dolch in Händen hielt. Hastig schob er die Waffe in seinen Gürtel. »Ich will dir nichts tun, Kamerad.« Der Franke schien nicht zu begreifen. Er war unfähig, sich zu bewegen und zu sprechen. Doch das war nicht nötig. Seine Blicke reichten. Golo wagte es nicht, näher zu kommen. Er sah auf die Pelzmütze. »Die ist gut. Sie wird dich ein bißchen warm halten.«
Schließlich setzte der Burgunde sich selbst die Mütze auf und kroch wieder in den entferntesten Winkel der Grube. Wenn es nur endlich wieder dunkel würde!
Endlos langsam wanderte die blasse Sonne über den schmalen Ausschnitt des Himmels, den Golo vom Grund der Grube aus sehen konnte. Das Röcheln des Franken setzte wieder ein. Wie langsam ein Mensch doch starb. Er war nicht mehr zu retten, dessen war sich der Ritter völlig sicher. Man mußte nur seine Hände ansehen. Sie waren krebsrot vor Kälte und die Fingernägel fast schwarz. Er wünschte, der Kerl wäre endlich tot. Das Stöhnen war nicht mehr zu ertragen. Obwohl es langsam leiser wurde, klang es zugleich auch anklagender. Am liebsten hätte er ihn getötet, um endlich seine Ruhe zu haben. Aber er konnte es nicht. Es war ihm unmöglich, hinüberzukriechen und dem Krieger einfach die Kehle durchzuschneiden.
Manchmal legte er dem Sterbenden eine kleine Kugel aus Schnee in den Mund. Für einige Herzschläge verstummte dann das Röcheln. Auch er selbst nahm auf diese Weise Flüssigkeit zu sich, doch es war ein schlechter Weg. Er konnte förmlich spüren, wie das kalte Wasser die Wärme aus seinem Körper sog. Langsam bekam er auch Hunger. Gestern am frühen Abend hatte er zum letzten Mal gegessen. Ein bißchen Hirsebrei und Brot. Was der Franke wohl gegessen hatte? Ob er daran gedacht hatte, daß es seine letzte Mahlzeit sein würde? Gewiß nicht.