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Das Gesicht des Franken wirkte wie mit einer dünnen Schicht aus Wachs überzogen. Eiskristalle hatten sich in seinem blonden Bart gebildet. Er war der erste Mensch, den Golo getötet hatte und dem er anschließend beim Sterben zusehen mußte. Was der Krieger wohl getan hätte, wenn er ihn nicht mit dem Dolch angegriffen hätte? Ob er selbst dann jetzt sterbend hier unten läge? Während der Kämpfe in Aquitanien hatte er zwei Krieger erschlagen, und hier in den Bergen waren es schon ein halbes Dutzend. Er konnte sich nicht einmal mehr an die Gesichter seiner Toten erinnern. Doch diesen hier würde er niemals vergessen. Jedes Röcheln war wie ein Dolchstoß. Der Sterbende hatte die Stunden für sich. Die Zeit und die Gedanken. Sie waren wie unsichtbare Messer. Er sollte nicht mehr hinübersehen! Doch die Grube war zu klein. Hier gab es kein Ausweichen! Wieder blickte Golo zum Himmel. Ihm war kalt. Wenn er in der Dunkelheit nicht von hier fortkam, dann würde auch er sterben.

Ganz nahe hörte er das Krächzen von Raben. Sicher machten sich die schwarzen Vögel an den Toten der letzten Nacht zu schaffen.

Das Röcheln des Franken riß Golo aus seinen Gedanken. Er würde viel darum geben, wenn der Krieger überleben würde. Es war schwer, einfach nur dazuliegen und ihm zusehen und zuhören zu müssen. Einmal war der junge Ritter fast so weit, aus der Grube zu klettern. Er hatte sich schon aufgerichtet und streckte die Hände nach dem Rand. Dann jedoch besann er sich eines Bessern. Nur wenige Stunden mußte er noch warten. Wenn in dieser Nacht Wolken vor dem Mond stünden, könnte er gefahrlos bis zu den Wällen kriechen. Er durfte nur nicht vorher einschlafen. Wenn er die Augen schloß, dann würde er nicht mehr aufwachen. Die Kälte würde ihm im Schlaf sein Leben stehlen.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung war der Franke tot. Erst war Golo erleichtert, doch dann begann ihm die Totenstille zu schaffen zu machen. Neben den beiden Leichen empfand er es als Unrecht, noch zu leben. Sie belauerten ihn. Waren neidisch auf den letzten Rest von Wärme, der in seinem Leib verblieben war. Golo wünschte, das Röcheln wäre wieder da. Stoßweise, heiser, einmal pfeifend leise, dann wieder heiser und laut.

Er kroch zu dem Toten und schloß ihm die Augen. Er konnte den starren Blick in seine Richtung nicht ertragen. Die Anklage... Der Ritter bürstete sogar die Eiskristalle aus dem Bart des Franken. Ob er wohl ein Weib gehabt hatte und Kinder?

Der Ritter fluchte leise. Diese verdammte Revolte. Was machte er hier eigentlich? Und warum hatte dieser fränkische Bastard ausgerechnet in dieses Loch springen müssen? Wäre er doch nur weitergelaufen. Vielleicht hätten die Pfeile ihn verfehlt, und er würde jetzt am Lagerfeuer sitzen und seine Suppe essen. Der Krieger war jung. Vielleicht fünfundzwanzig Sommer. Er hätte sicher noch zwanzig Jahre leben können!

»Reiß dich zusammen!« murmelte Golo leise. »Du darfst dich nicht gehenlassen. Noch eine Stunde, dann ist es dunkel genug, um aus dem Loch zu kriechen.«

Draußen war es still. Die Raben schienen davongeflogen zu sein. Nur das feine Knistern des Schnees war zu hören, wenn ein Windstoß Eiskristalle den Hügel hinauffegte.

Wieder blickte Golo in das Gesicht des Toten. Was war, wenn der Geist des Mannes ihn verfolgte, um sich zu rächen. Er hatte von solchen Geschichten gehört, in denen die Geister Verstorbener ihre Mörder verfolgten. »Du weißt, daß ich nichts gegen dich gehabt habe. Es war ein Unglück. In meiner Lage hättest du nicht anders gehandelt. Du darfst mich nicht verfolgen...«

Golo biß sich auf die Lippen. Er begann wahnsinnig zu werden. Er sprach mit einem Toten! So konnte das nicht weitergehen. Der tote Krieger auf den Holzpflöcken rührte ihn nicht. Warum konnte er nicht einfach auch diesen Franken vergessen? Er durfte ihn nicht mehr anblicken. Bald würde die Nacht die Blässe im Gesicht seines Gegenübers verschlucken. Dann hockte dort nur noch ein undeutlicher Schemen am anderen Ende der Grube. Vielleicht wurde es aber auch schlimmer, wenn er den Kerl nicht mehr richtig sehen konnte. Er mußte vor ihm fliehen. Der Ritter schloß die Augen und lehnte sich gegen das kalte Erdreich. Jetzt spürte er, wie der Hunger an seinen Eingeweiden fraß. Und er war müde... Unendlich müde. Vor dem Angriff hatte er nicht schlafen können.

Es war verlockend, sich ein wenig treiben zu lassen. Auf dem schmalen Grad zwischen Tagtraum und Schlaf zu balancieren. Er dachte an das Dorf, in dem er aufgewachsen war. An die Erntezeit, als sie alle gemeinsam auf den Feldern gewesen waren. So weit fort war all dies. Wenn er sich der Erinnerung ganz hingab, konnte er fast den warmen Sommerwind auf den Wangen spüren.

»Golo?«

Erschrocken schlug der Ritter die Augen auf. Der Himmel über ihm war jetzt völlig schwarz. Er mußte eingeschlafen sein. Hatte ihn jemand gerufen? Oder war es nur eine Stimme in seinen Träumen gewesen.

»Golo?«

Unsicher blickte er zu den beiden Toten. War es schon Mitternacht? Waren sie aus dem Reich der Geister zurückgekehrt, um nun auch ihn zu holen? Doch die Stimme war seltsam vertraut.

»Hier. Hier bin ich.« Er wagte es nicht, laut zu rufen. In der Nacht waren Stimmen weiter zu hören als bei Tag. Er hatte Angst, daß die fränkischen Wachen auf ihn aufmerksam wurden.

Ein Geräusch wie ein Schleifen war zu hören. Es näherte sich dem Rand der Grube. Der Ritter spürte, wie sich ihm die Haare im Nacken sträubten. Was zum Henker war das dort draußen? Suchte ihn am Ende ein leichenfressender Unhold? Er bekreuzigte sich.

Schnee rutschte vom Rand der Grube hinab. »Bist du dort unten?«

Golo zückte den Dolch aus seinem Gürtel.

»Golo?«

Diese Stimme? Konnte es sein... Das war doch nicht möglich!

»Mechthild?«

Ein Schatten glitt über den Rand der Falle. »Golo! Du lebst. Ich habe es gewußt!« Das Mädchen schloß ihn in die Arme und drückte ihn fest an ihre Brust. »Bei der Heiligen Jungfrau! Du fühlst dich an wie ein Eisblock. Bist du verletzt? Kannst du laufen?«

»Was machst du hier? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Die Bogenschützen...«

»Ich wußte, daß du nicht tot bist. Die anderen haben es gesagt, aber ich wollte ihnen nicht glauben. Golo!«

»Danke.« Er strich ihr zärtlich über das Gesicht. »Danke. Ich weiß nicht...« Er beugte sich vor und küßte sie.

Schließlich war sie es, die sich aus der Umarmung löste. Doch es war gut. Er hatte gespürt, das sie keinen Groll mehr gegen ihn hegte. Was in Treveris geschehen war, war nun vergessen. Dieses Grab, in dem er den ganzen Tag gehockt hatte, hatte sie wieder zusammengeführt.

»Hier, nimm das.« Mechthild zog sich einen mit Schnee verkrusteten Schafsfellumhang von den Schultern. Darunter trug sie einen zweiten Umhang aus weißer Wolle. »Leg ihn an. Solange wir über den Boden kriechen und der Mond hinter den Wolken verborgen bleibt, wird man uns nicht erkennen. Man müßte schon auf uns treten, um zu merken, daß wir keine Schneeverwehung sind. Oben bei den Wällen gibt es einen Abschnitt, wo die Wachen Bescheid wissen, daß ich kommen werde. Doch wir sollten uns beeilen. Die Männer sind unruhig. Weil es so dunkel ist, haben sie Angst, daß Ricchars Sachsen vielleicht einen Überraschungsangriff wagen könnten.«

Golo starrte sie verwundert an. »So viel hast du ja noch nie auf einmal gesprochen.«

Sie grinste. »Muß an dir liegen. Laß uns gehen.«

Der Ritter blickte ein letztes Mal zu dem toten Franken. »Möge deine Seele in Frieden ruhen, Kamerad. Meine Gebete werden mit dir sein.«

»Mit wem sprichst du?«

Der Burgunde schüttelte den Kopf. »Laß uns gehen!« Er zog den Schafspelz um seine Schultern und streckte sich, um am Rand der Grube nach Halt zu suchen.