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19. KAPITEL

Volker duckte sich hinter die hölzerne Palisade und beobachtete, wie die Mannschaften bei den Geschützen am Fuß des Hügels nachluden. Zehn Soldaten bedienten jeweils ein Katapult. Wieder wurde eines der Geschütze abgefeuert. Bis hier oben konnte man den dumpfen Knall hören, mit dem der Katapultarm auf das Lederpolster schlug. Sich drehend und ein wenig trudelnd flog der rotbraune Felsbrocken den Berg hinauf. Der Spielmann duckte sich noch ein wenig tiefer. Fauchend zog das Geschoß über die Palisade, verfehlte nur knapp eines der Häuser und schlug in den Schnee.

Ricchar hatte schneller neue Katapulte gebaut, als sie erwartet hatten. Nur fünf Tage waren seit dem nächtlichen Überfall vergangen. Besorgt blickte der Spielmann über die niedrigen Häuser. Sie konnten es sich nicht leisten, Unterkünfte zu verlieren. Schon jetzt war jede der Hütten überfüllt.

Wieder zog eines der Geschosse über seinem Kopf weg. Aus den Augenwinkeln sah der Burgunde, wie der Eber hinter die Palisade geduckt in seine Richtung lief. Hoffentlich brach keine Panik in dem Dorf aus. Das zweite Geschoß verfehlte die Festhalle nur um ein paar Spann. Der Spielmann fluchte. Dort waren ihre Verwundeten untergebracht. Das Dach durfte nicht zerstört werden. Doch was sollte er tun? Der letzte Ausfall hatte ihn dreißig Krieger gekostet. Bei der Verlustrate konnte er genau ausrechnen, wann er keinen Mann mehr hatte, der ein Schwert halten konnte.

Keuchend lehnte sich der Eber neben ihm an die hölzerne Brustwehr. Er hielt einen Pfeil in der Hand, um den mit einem Wollband ein breiter Streifen Birkenrinde gebunden war. »Der steckte in der Palisade am Ostwall. Er hat es geschafft.«

Volker nickte zufrieden. Vor vier Tagen hatte sich Rother bei Nacht aus dem Dorf geschlichen. Er sollte sich in den nahegelegen Wäldern verbergen und die Truppen Ricchars bespitzeln.

Volkers Hände zitterten vor Aufregung, als er das Band um den Rindenstreifen löste. Auf der Innenseite war mit Ruß eine kurze Nachricht niedergeschrieben.

»Zehn je Tag. Fast zweihundert krank.«

»Was steht da?« Der Eber konnte seine Ungeduld nicht länger zurückhalten. Er starrte auf das Rindenstück, ohne die Schriftzeichen lesen zu können. »Was berichtet er?«

»Wir hatten recht.« Volker rollte die Nachricht zusammen und schob sich das Rindenstück hinter den Gürtel. »Niemand kann eine Belagerung bei dieser Kälte aufrechterhalten, ohne einen hohen Preis dafür zahlen zu müssen. Er verliert jeden Tag zehn Krieger, die sie irgendwo bestatten, wo wir es nicht sehen können. Und zweihundert Mann sind so krank, das sie nicht mehr diensttauglich sind. Wenn wir es schaffen, noch eine Woche durchzuhalten, wird er aufgeben müssen. Schon jetzt kann er mehr als ein Viertel seiner Truppen nicht mehr ins Gefecht führen.«

Der Eber runzelte die Stirn. »Sehen tut man davon aber nichts.«

»Natürlich nicht. Die Soldaten bleiben in ihren Lederzelten und hocken an den Feuern. Man sieht nie mehr als hundert gleichzeitig im Lager herumlaufen. Jeder, der kann, flüchtet vor der Kälte.«

»Und wenn die Nachricht gefälscht ist? Rother ist kein Waldläufer. Es kann für die Sachsen nicht schwer sein, ihn aufzuspüren. Wir hätten Drustan schicken sollen. Der steht im Wald neben dir, und du merkst es nicht. Er ist...«

»Er ist sicher ein guter Mann«, unterbrach Volker den Gesetzlosen. »Doch leider kann er nicht schreiben. Es hätte uns nichts genutzt, ihn zu schicken.«

»Aber woher willst du wissen, daß es wirklich Rother ist, der dir schreibt? Du weißt, daß Ricchar ein Fuchs ist.«

Der Spielmann schüttelte ärgerlich den Kopf. »Manchmal hilft es, auf die Gnade Gottes zu vertrauen.«

Der Eber pfiff leise durch die Zähne. »So schlecht steht es also schon um uns! Ich für meinen Teil traue ihm nicht, und ich werde herausbekommen, ob er uns betrügt.« Ein Felsbrocken zog zischend über ihre Köpfe hinweg. Krachend durchschlug er ein Häuserdach. Gedämpfte Schreie ertönten.

»Wir müssen dafür sorgen, daß mehr Schnee auf den Dächern liegt. Er wird die Treffer durch die Geschosse ein wenig abfedern.« Volker ließ sich den Erdwall hinabrutschen und rannte ins Dorf. Es war vernünftiger, sich mit praktischen Dingen zu beschäftigen, statt hinter allem Verrat und Intrige zu sehen.

Er hatte sich Volker anvertraut. Es ging so nicht mehr weiter. Er verzehrte sich vor Sehnsucht nach Mechthild. Sie hatte zwar noch den Körper eines Mädchens, doch in den letzten Wochen war sie eine Frau geworden. Golo spürte, daß auch sie sich nach ihm sehnte. Es war die Art, wie sie ihn ansah oder manchmal verstohlen seine Hand berührte. Er war sich ganz sicher... Schließlich war sie es gewesen, die ihn in Treveris aufgefordert hatte!

Trotz all dieser Zeichen war er sich jedoch auch sicher, daß sie ihn nicht mehr direkt darauf ansprechen würde. Diesmal wäre es seine Sache, den ersten Schritt zu unternehmen. Gewiß hatte sie Angst, noch einmal so verletzt zu werden. Sich eine Blöße zu geben...

Volker war völlig überrascht gewesen, als Golo ihm erklärt hatte, wer sich hinter dem Waffenknecht verbarg. Der Spielmann mußte blind sein! Daß ausgerechnet er eine Frau nicht erkannt hatte... Es gab kein Haus, keine Kammer und keinen Heuboden, auf dem Golo mit Mechthild für ein paar Stunden hätte allein sein können. Überall waren Flüchtlinge untergebracht, und die Nachtlager der verschiedenen Paare waren oft nicht einmal durch aufgespannte Tücher voneinander getrennt. Für manche mochte es seinen Reiz haben, wenn sie ihren Gelüsten unter den Augen anderer nachgingen, doch Golo wußte, daß sich Mechthild ihm unter solchen Umständen niemals würde hingeben können. Er wollte mit ihr allein sein in ihrer ersten Nacht.

Der einzige im ganzen Dorf, der eine Unterkunft für sich allein hatte, war Volker. Niemand wagte es, mit ihm, dem Auserwählten, unter einem Dach zu wohnen. Je verzweifelter ihre Lage wurde, desto seltsamere Züge nahm die Verehrung eines Teils der Dorfbewohner für den burgundischen Spielmann an. Wenn er durch das Dorf ging, versuchten manche Männer und Frauen, den Saum seines Gewandes zu berühren, so, als sei es schon jetzt eine schutzverheißende Reliquie. Sicher, es war unbestritten ein Wunder, daß es Ricchar bislang noch nicht gelungen war, das kleine Bergdorf zu erobern, doch deshalb war der Barde noch kein Heiliger. Auch dann nicht, wenn Belliesa immer neue Geschichten und Lieder über den Spielmann erfand.

Volker aber hatte ihm auf sein Bitten für eine Nacht seine Hütte beim Turm des Ebers überlassen. Es war eines der kleinsten Häuser im Dorf. Man hatte es aus mächtigen Balken gezimmert und die Fugen in den Wänden mit Moospolstern zugestopft. Es gab nur einen einzigen Raum. Er war etwas weniger als vier mal vier Schritt groß. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm, über den Moos und Stroh gestreut war. Am hinteren Ende gab es eine gemauerte Feuerstelle, von der der Rauch unter den rußgeschwärzten Deckenbalken bis hin zu der kleinen Öffnung im Giebel über der Tür zog. Dicht neben der Feuerstelle war auf dem Boden ein Lager aus Wolldecken und Fellen ausgebreitet. Dort lag er nun mit Mechthild. Sie hatten ein einfaches Mahl aus Hirsebrei, altem Brot und Käse verzehrt. Obwohl die Speicher des Dorfes bis fast zu den Dachschindeln mit Vorräten gefüllt waren, hatte Volker vor einer Woche die Rationen für alle drastisch gekürzt. Das tägliche Essen reichte jetzt kaum noch, um satt zu werden, und Golo hatte sich die Brot- und Käsestücke, die er Mechthild heute abend angeboten hatte, drei Tage lang vom Mund abgespart. Obwohl der Hunger nun ihr Gast geworden war, hatte sich die Stimmung unter den Belagerten deutlich gebessert, seit die Lebensmittel rationiert waren. Volker hatte allen auf diese Weise seine Zuversicht gezeigt, daß sie noch bis zum Frühling Widerstand leisten würden. Golo wußte allerdings, daß die Entscheidung des Spielmanns nicht auf wirklicher Hoffnung begründet war, sondern allein auf taktischem Kalkül beruhte. Der Barde glaubte nicht daran, daß sie Ricchar besiegen würden. Er hatte es niemals getan!